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Brave Mädchen hungern, böse Mädchen erbrechen

Aktualisiert: 8. Dez.

Die diagnostische Politik von Essstörungen und die geschlechtsspezifische Moralität der Anorexie-Subtypen


 

Ich glaube, daß es die Magersucht nicht gibt; die Mediziner haben sie ausgeheckt, um endlich eine Erklärung zu haben, warum immer mehr Menschen – hauptsächlich Frauen – ihren Zorn dadurch zum Ausdruck bringen, daß sie sich weigern zu essen.“ Karen Margolis (1985, Die Knochen zeigen)


Psychische Störungen existieren, anders als der Baum vor unserem Fenster, das Handy in unserer Hand oder der Stuhl, auf dem wir sitzen, nicht als natürliche Objekte. Es gibt höchstens Menschen, die unter bestimmten Phänomenen leiden und sich in einigen Aspekten ähneln. Psychische Störungen sind Konstrukte – heuristische und vorläufige Klassifikationsinstrumente, die dazu dienen, in komplexe Erfahrungswelten etwas Ordnung zu bringen und – im Idealfall – Orientierung zu ermöglichen. Dabei ist es nicht unerheblich, wer diese Ordnungen und Gruppierungen von ähnlichen Phänomenen unter bestimmte Kategorien vornimmt, welche Kategorien geschaffen und Begriffe erfunden werden und auf Basis welcher theoretischer Annahmen und Vorstellungen diese Ordnungen und Klassifikationen vorgenommen werden (vgl. Foucault).




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Die dominierenden diagnostischen Systeme – die International Classification of Diseases (ICD, herausgegeben von der World Health Organization, seit 1949) und das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM, herausgegeben von der American Psychiatric Association, seit 1952) – präsentieren sich als wissenschaftlich, objektiv, atheoretisch und deskriptiv. Dieses Selbstverständnis ist historisch jung: Die explizite Rahmung des DSM und ICD als „atheoretisch-deskriptiv“ entsteht erst mit dem DSM-III (1980) und geht 1992 in das ICD-10 ein.


Die Macht dieser Manuale ist beträchtlich. Für Psychotherapieanträge müssen ICD-Codes vergeben werden; die Wirksamkeitsforschung zu Psychopharmaka und Psychotherapie stützt sich überwiegend auf diese Kategorien. Auch für die Identitätskonstitution moderner Individuen spielt die Diagnostik eine zunehmende Rolle: War man früher Punk, Gothic oder Popper und stand dem medizinisch-psychiatrischen Blick eher mit kritischer Distanz gegenüber, formieren sich Identitäten und Peer-Groups heute vielfach affirmativ um psychiatrisch-psychologische Begriffe.



Dieser Artikel versucht, etwas dis/order in die gängigen diagnostischen Ordnungen zu bringen. Die Darstellung ist stellenweise assoziativ und nicht-linear. Wenn es gelingt, zum Weiterdenken und eigenen Fragen anzuregen, ist viel gelungen.





1. Die Subtypisierung der Anorexia nervosa: Eine genauere Betrachtung



Wir wollen uns die Diagnostik nun ausschnittsweise einmal genauer ansehen und dabei insbesondere die Unterscheidung der Anorexia nervosa in zwei Subtypen untersuchen.


Während die Anorexia nervosa bereits im DSM-I (1952) enthalten ist, wird die Bulimia nervosa erst 1980 ins DSM-III aufgenommen – also in jener Zeit, die auch den Paradigmenwandel in der klinisch-psychiatrischen Diagnostik markiert und nur ein Jahr nachdem Gerald Russell den Begriff der Bulimia nervosa wissenschaftlich geprägt hat. Der Begriff der Essstörung als systematischer diagnostischer Oberbegriff erscheint ebenfalls erstmals im DSM-III 1980.


Die Differenzierung der Anorexie in Subtypen (restriktiv vs. Binge/Purging) wird erstmals 1987  – sieben Jahre nach Einführung der Bulimie – im DSM-III-R bzw. 1994 DSM-IV vorgenommen.


Da alles mit genauem Lesen beginnt, schauen wir uns die derzeitige Diagnostik im Hinblick auf die Subtypen nun einmal detailliert an.


1.1 Diagnostische Kriterien und Subtypen (DSM-5; ICD-10/11)


Neben den allgemeinen Kriterien der Anorexia nervosa – signifikant niedriges Körpergewicht bzw. Gewichtsverlust; ausgeprägte Angst vor Gewichtszunahme (in ICD-11 kein Kriterium mehr); gestörte Körperwahrnehmung – unterscheiden DSM-5 und ICD-10/11 zwei Subtypen:


Restriktiver Typ (F50.00): In den letzten drei Monaten weder wiederholte Essanfälle noch Purging-Verhalten (selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika, Klistieren). Gewichtsverlust erfolgt primär durch Diät, Fasten und/oder übermäßige körperliche Bewegung.


Aktiver / Bulimischer / Binge-/Purging-Typ (F50.01): In den letzten drei Monaten wiederholte Essanfälle oder Purging-Verhalten (selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika, Klistieren).




Der restriktive Typ diätet, fastet oder bewegt sich also übermäßig (gemessen an welchem Maß?) viel. Fasten oder übermäßige (oder meint man: maßlose?) körperliche Bewegung, die subjektiv durchaus purgative Funktionen erfüllen können, sind diagnostisch ausdrücklich nicht als Purging definiert.


Das Binge/Purging-Verhalten wird als diagnostisches Differenzialkriterium bestimmt, wobei das englische Binge/Purge-Vokabular im Deutschen oft unübersetzt übernommen wird (allenfalls gelegentlich finden sich Übersetzungen des Purgings als "entleerende Maßnahme" oder "Reiningungsverhalten") – ein Hinweis darauf, wie unreflektiert die anglo-amerikanischen Kategorien importiert werden.


Beide Manuale bezeichnen den ersten Subtyp als „Anorexia nervosa, restriktiver Typ“. Beide verwenden denselben Pleonasmus (die ursprüngliche Begriffsprägung der Anorexie basiert bereits auf extremer Restriktion). Also hätten wir eine Anorexia nervosa vom anorektischen Typ und einen irgendwie anderen Typ.


Der zweite Typ wird nun – im ICD-10 wie auch in vielen Lehrbüchern – als aktiver Typ bezeichnet. Halten wir uns bei diesem 'aktiv-anorektischen' Typen ein wenig länger auf:



2. Die Konzeptualisierung von „Aktivität“


2.1 Behaviorismus und die Reduktion auf Beobachtbares



Aktiv: ein kleines Wort, das zunächst eingängig erscheint: aktiv, weil hier „etwas getan wird“. Sichtbar. Quantifizierbar. Beobachtbar ("Übermäßige Bewegung" – ebenfalls sichtbares Verhalten – ist das gewiss auch, aber das ist den Diagnostikern offenbar entgangen).


An behavioristischen Modellen orientierte Diagnostik privilegiert äußerlich beobachtbares Verhalten. Denken, Intentionen, subjektives Erleben interessieren nicht. Restriktion, obwohl subjektiv hochgradig aktiv und anstrengend, fällt ebenfalls aus dem Radar.


So werden allein Binge- und Purging-Verhalten als „aktiv“ markiert, was, bei genauem Nachdenken, doch ein wenig unlogisch erscheint und konzeptuell problematisch ist:


Erbrechen etwa wird durch einen Reflex ausgelöst. Kennzeichnend an Reflexen ist, dass es keinen point of return gibt, kein Zurück, keinen „Raum zwischen Reiz und Reaktion“.

Das Erbrechen geschieht und ist in diesem Sinne gerade nicht aktiv.


Ähnlich verhält es sich bei der Einnahme von Abführmitteln oder Diuretika, deren Wirkung (und Nebenwirkungen) sich das Subjekt unterwirft. Das Erbrechen oder Abführen hat nicht den Charakter eines Vollzugs, sondern eines Überlassen: Das Mittel wird eingenommen, der Reflex ausgelöst – und der Rest einem Prozess überlassen, der seinem eigenen Verlauf folgt.


Zwar ließe sich argumentieren, dass zum Einleiten dieser autonomen Prozesse ein aktiver Akt (das Auslösen des Reflexes, die Einnahme der Laxantien)notwendig ist. Doch warum sollten ausgerechnet diese Akte, ebenso wie jene des „Binge-Verhaltens“ aktiver sein als die Akte der Restriktion, des aggressiven Sporttreibens oder des Fastens?


2.2 Eine kleine Phänomenologie der Restriktion


Bei der anorektischen „Restriktion“ handelt es sich um alles andere als einen passiven Modus. Anders als es der Name (altgriechisch an- 'ohne', 'nicht vorhanden'; orexis 'Verlangen', 'Appetit'; lateinisch nervosa 'nervös' 'durch die Nerven bedingt') vermuten lässt, zeigen zahlreiche Berichte auf, dass Appetit, Hunger und Begehren – verschiedener Art – intensiv präsent sind und fortlaufend reguliert und 'produziert', genossen oder gefürchtet werden. Tagtäglich fordern Appetit und Verlangen zu enormer Aktivität heraus. Die restriktiven Regeln sind


„… so rigid und unforgiving, the feeling is one of always being at risk of failure. It is as though life is lived running at the very back of a treadmill and any sneeze or momentary distraction will cause you to fall off. There is no moment to relax, no option for imperfection.“

Die affektiven Stürme – Wut, Angst, Panik –, die auftreten, wenn anorektische Routinen gestört werden, widersprechen zusätzlich jeder Vorstellung von Passivität.

Die Unterscheidung „aktiv/passiv“ ist nicht phänomenologisch begründet, sondern kulturell codiert.



3. Moralische Ökonomien: Fasten, Fressen, Fegefeuer


'Essgestörte' Praktiken gruppieren sich weniger entlang der Achse „Aktivität“, sondern entlang moralischer Wertungen. Diäten, Fasten und Sport sind sozial erwünscht und werden dem F50.00-Typ zugeschlagen. Praktiken rund um Exkremente unterliegen kulturellen Tabus, werden abgegrenzt und dem F50.01-Typ zugeordnet. Heiliges Fasten und teuflisches Purging passen nicht in eine Kategorie.


Zahlreiche anthropologische und historische Studien zeigen, dass gesellschaftliche Tabus, Reinheitsvorstellungen und Körperkonzeptionen einem Wandel der Zeit unterliegen und interkulturell variieren (vgl. etwa Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation).


Das ayurvedische Panchakarma integriert Erbrechen und Abführen etwa als medizinisch-spirituelle Praxis, wobei es auf einer anderen Körperontologie beruht als westliche Medizin - und daher eher wenig mit Detoxambitionen der Selbstoptimierungskultur zu tun hat, die wiederum viel über das westlich-cartesianische Körperverständnis verraten. Auch die lustvoll-üppigen, gemeinschaftlichen Fressgelage und Erbrechenspraktiken römischer Eliten, auf die Seneca verweist: „Vomunt, ut edant, ut vomant.“ („Sie erbrechen, um zu essen; sie essen, um zu erbrechen.“), haben wenig mit modernen Purging-Praktiken zu tun. Deren Kennzeichen ist die Einsamkeit: sie finden meist isoliert und schamhaft-verborgen statt.


Symptome sind vieldeutig (polyvalent). Selbst dasselbe Verhalten kann bei zwei Personen unterschiedliche Funktion und unbewusste Bedeutungen haben. Ein Zeichen kann, je nach Kontext, unterschiedlich interpretiert werden. Die Unterscheidung von Subtypen über eine (implizit) moralisch aufgeladene Symptom-Topografie (aktiv/passiv; sauber/unsauber) ist epistemisch schwach.



4. Epistemische Blindstellen, theoretische Voraussetzungen und alte Ängste


4.1 Die Angst vor dem Subjekt in der Mainstream-Psychologie


In der Mainstream-Psychologie, eine nach wie vor am behavioristischen Paradigma orientiere Psychologie, wird systematisch (vgl. Devereux) Subjektivität marginalisiert. Hunger, Zwang, Begehren, Angst oder Hilflosigkeit lassen sich schwer quantifizieren und bleiben daher epistemisch unregistriert.


Beschreibungen und Kategorisierungen sind nie atheoretisch. Besonders deutlich wird dies am Begriff der Anorexia nervosa, bei dem wohl eher eine alte Wunschvorstellung als ein Bemühen um eine passenden Begriff, der sich am Erleben von Betroffenen orientiert, am Werk war. Hermeneutik und Phänomenologie sind in der Mainstream-Psychologie nahezu unbekannt. Karl Jaspers - nie gehört.



4.2 Die Angst vor der aktiven Frau


Der Binge/Purge-Typ gilt als „aktiv“, der restriktive Typ folglich als „passiv“.


Gerald Russell grenzt die Bulimie von der Anorexie in einem 1979 erschienen Artikel dadurch ab, dass die bulimischen Frauen mehr wiegen würden und „sexuell aktiver“ seien. Wieder begegnet uns das Wort „aktiv“. Wir können es nun einordnen.


Die Dichotomie folgt kulturellen Fantasien und bedient alte, spaltende Vorstellungen: einerseits die passiv-leidende, enthaltsame Dame; andrerseits das aktive, gefährlich-verschlingende Weib. Der "Madonna-Hure-Komplex" (vgl. Sigmund Freud) in klinischer Nomenklatur.

 


5. Good Girl/ Bad Girl-Dynamiken und narrative Archetypen in der Diagnostik


Treibt man diagnostische Archetypen auf die Spitze, zeigt sich eine fast mythische Struktur:


Die anorektische Figur erscheint restriktiv freundlich gezügelt, fragil, moralisch gut, diszipliniert, möglicherweise hin und wieder ein wenig stur und kognitiv verzerrt (wobei man ihr das nicht anlasten darf – der „nervöse“ bzw. heute „neurobiologische“ Hungerdämon ist verantwortlich); selbstverständlich untergewichtig; ausgestattet mit „Willenskraft“, unbefleckt von Appetit. Ihr fehlt eigentlich nur ein starke Ritter bzw. Retter, der sie von ihrem Dämon befreien muss.


Die bulimische Figur (und erst recht die binge-eating-Figur) erscheint impulsiver, maßlos, emotional labil, liebeshungrig, mit weit geöffneten Mund, tiefer Kehle und „weiblichen Rundungen“, weniger kontrolliert, weniger rational, weniger intelligent als die ätherische Anorektikerin; leichte Beute der Medien- und Konsumkultur.


Beide sind auf ihre Weise interessant, nicht ganz unattraktiv, umweht von einem Hauch an Gefahr und regen die Phantasie an.



Während Anorexie und Bulimie klassische griechische Namen tragen, gibt es nur eine angelsächsische/amerikanische Binge-Eating Disorder (seit 2013 im DSM-V). Eine subtile Wertordnung entsteht: von der „feinen“, nervös bedingten Appetitlosigkeit über den wenig schmeichelhaften bulimischen „Ochsenhunger“ (bous = Ochse; limos = Hunger) bis hin zu Bingeing und Purging und „Essanfällen“.



6. Der medizinische Blick und eine kleine Genealogie der Essstörungen


Genealogisch lässt sich die Geschichte so erzählen:


Zuerst fielen dem medizinischen Blick nur die Frauen auf, die die Nahrung verweigerten. Da man nicht mehr so recht an heilige Fastenwunder glaubte, lag eine medizinische Diagnose nahe: die Anorexia hysterica, 1873 zeitgleich vom englischen Arzt Sir William Gull sowie vom Franzosen Ernest-Charles Lasègue beschrieben.


Schließlich wurde beobachtet, dass es Frauen gibt, die diesem Idealtypus, mittlerweile unbenannt in Anorexia nervosa (mann hatte inzwischen erkannt, dass die Ursache wohl nicht im Uterus, sondern im Nervenkostüm liegt) nicht ganz entsprechen.


Die Psychoanalytikerin Hilde Bruch beschrieb etwa, Jahre bevor es die Diagnose der Bulimia nervosa gibt, dass nicht wenige ihrer magersüchtigen Patientinnen ihr im Vertrauen davon erzählten, hin und wieder heimlich "Essanfälle" zu haben. Das veranlasste Bruch jedoch nicht dazu, gleich eine neue Diagnose auszurufen. Erst musste wieder ein Mann - Gerald Russell - erscheinen, der dies vornimmt; und sich damit auch zugleich selbst ruhmreich in die Medizingeschichte einschreibt.


Nach ihm ist auch das bekannte Kainszeichen für Bulimikerinnen benannt: das Russell-Zeichen beschreibt Hautveränderungen am Handrücken, die nach wiederholtem selbstinduzierten Erbrechen auftreten.


Damit war eine erste Trennung eingeführt, die zuvor verborgene Dynamik von der Autorität des männlich-medizinischen Blicks sichtbar gemacht und eine neue Störungskategorie fixiert.

Gleichwohl begreifen sich ihrem Selbstverständnis nach viele 'Bulimikerinnen' als gescheiterte 'Anorektikerinnen'. Wie Kain leben sie oft mit der Schuld und Scham ihre faszinierende Schwester, wenngleich nicht umgebracht zu haben, aber doch nicht verkörpern zu können.


Welche unbewussten Motive strukturieren dieses „Scheitern“?  Die Differenzierung allein über einen unzügelbareren, impulsiveren, 'aktiveren' Appetit ('mangelnde Impulskontrolle') der Bulimikerinnen vorzunehmen, scheint doch ein wenig zu simpel, wenig erklärend und eher metaphysisch begründet. Auch das Driften zwischen den Diagnosen, wie es zahlreiche "essgestörte" Frauen vollführen, wird so wenig verständlich.


Die Unterscheidung anhand DSM und ICD ist, wenig überraschend, ebenfalls wenig hilfreich: Ginge man streng nach DSM und ICD vor, so unterscheidet sich die Bulimie von der Anorexie im Kern durch das Körpergewicht. Ein, zwei Kilo mehr oder weniger als ein eher willkürlich gewählter Gewichts-Cutoff: und schon hat das Subjekt eine andere Diagnose. Das wirkt nicht nur wahnsinnig willkürlich und wenig durchdacht: es ist es auch.



7. Fazit: Diagnostik als Weltmachung


Diagnostische Konstrukte sind weder neutral noch atheoretisch oder rein deskriptiv. Die Zuschreibung "aktiv" für das 'Binge/Purge-Verhalten' entpuppt sich als sprachliche Maskierung einer impliziten moralischen Wertung, die unbewusste kulturelle Geschlechterbilder in die Diagnostik einschreibt und gleichzeitig die subjektive Phänomenologie und Bedeutungen verkennt .


Diagnosen wirken an der Ko-Kreation von Symptomen sowie der Konstitution von Wirklichkeit mit. Die Geschichte der Hysterie zeigt: Patientinnen entwickelten häufig genau jene Symptome, die Ärzte zuvor als typisch bestimmt hatten (vgl. Israël 1983; von Braun 2009).

Welche Symptome gezeigt und produziert werden, wie Leiden ausgedrückt wird, hat nicht allein etwas mit innerpsychischen Dynamiken, sondern stets auch etwas mit relationalem Beziehungsgeschehen und kulturellen Bedeutungen zu tun.


Mithilfe von dekonstruktiven Bewegungen besteht allerdings die Möglichkeit, Diagnosen als das zu erkennen, was sie sind: Vorschläge. Allenfalls Werkzeuge, nicht Wahrheiten. Sie können strategisch genutzt (etwa zur Abrechnung mit Krankenkassen) und zugleich kritisiert und dekonstruiert werden.


Für die Identitätskonstitution sind die Diagnosen eher wenig zu empfehlen: Zunächst mögen sie entlasten (den Dingen einen Namen zu geben, kann angstmildern sein) und entschuldend wirken ("Nicht ich bin es - die Essstörung /wahlweise auch: mein Gehirn/ die Essstörungsstimme/ der biologische Extremhunger ist es"). Doch der Preis, den man für die schnelle Entastung zu zahlen hat, ist hoch: Freiheit ist nur im Doppelpack mit Verantwortung zu haben und die Namen, denen man sich unterwirft, entfalten eine eigene Kraft.


Die Gefahr dieser Diagnostik (und entsprechender Behandlungen, die den co-konstruktiven und relationalen Charakter psychischer Phänomene verkennen) liegt in der Reifizierung: Prozesse werden zu Dingen, zu Besitzgütern ("Ich und meine Störung"), bis hin zu verfolgenden Dämonen. Das ermöglicht zwar Heldengeschichten vom Kampf gegen eine fremde Entität („gegen 'die Essstörung' kämpfen“), entfremdet die Betroffenen jedoch von ihrer Geschichte, ihren Abwehrleistungen, letztlich von sich selbst – und bindet sie in einen kämpferischen Regulierungs-Diskurs ein, aus dem es kaum ein Entkommen gibt (immerzu müssen sie wachsam regulieren und Selbst-Management betreiben), in ständiger Angst – vor sich selbst (bzw., mit Helmut Thomä präziser gefasst: vor "unbekannten Selbstanteilen, denen man nicht entkommen kann und denen man also überall und in vielen Gestalten begegnet").


Die entscheidenden Frage lautet nicht: in welches Diagnosekästchen passe ich bzw. das Subjekt? (So ganz passt man da nie hinein – weshalb man dann meist noch mit sog. Komorbiditäten = Artefakten des kategorialen Klassifikationssystems, belästigt wird), sondern:


Öffnen unsere Konzepte, Taxonomien und Konstrukte den Diskurs – oder schließen sie ihn? Tragen Sie zu Verständnis und Verständigung bei? Vertiefen sie Spaltungen – oder ermöglichen sie es, sie zu integrieren? Nehmen Sie den Menschen, mit seiner Geschichte und Komplexität in den Blick – worum sich etwa alternative diagnostische Instrumente wie die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) oder die Psychodynamische Diagnostik (PDN) bemühen – oder sind sie lediglich an der sichtbaren Oberfläche, an biologischen- und Verhaltensmarkern, Messbarkeit und schneller Effizienz interessiert? Werden in einer Psychotherapie 'psychische Störungen' behandelt – oder Menschen, die unter bestimmten Erlebens- und Verhaltensweisen (genauer: sich selbst) leiden und das (also sich) verändern möchten?


Auch wenn sie im Gewand der Wissenschaft auftreten, bleiben Diagnosen kulturelle Artefakte moralischer, sozialer und normativer Vorstellungen. Sie sind keine neutralen Beschreibungen, sondern stets eingebettet in kulturelle Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit, Moral und Ethik, Machtstrukturen und Sprachspiele und müssen daher fortlaufend auf ihre ideologischen Implikationen hin untersucht werden.



Statt schnellem und allzu bravem Diagnosen-Konsum bietet es sich an, zunächst ein wenig auf ihnen herumzukauen, zu prüfen, wie sie schmecken und wenn nicht, kann man sie, ähnlich wie Karen Margolis es in ihrer lesenswerten Autobiographie "Die Knochen zeigen" eingangs vormacht, auch wieder ausspucken – und beginnen, den eigenen Appetit zu untersuchen.



 

 


 
 
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