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Ice Ice Baby: Zur Psychologie des Eisbadens

Zwischen Selbstoptimierung und Selbstheilung eine analytische Expedition


Eisbaden liegt im Trend. Kaum sinken die Temperaturen sind die Medien voll mit Bildern von Menschen, die sich freiwillig in eiskaltes Wasser begeben. Sie sprechen von mentaler Stärke, Resilienz und gesundheitlichen Vorteilen. Doch was passiert eigentlich psychologisch betrachtet beim Eisbaden?



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Ein kleiner Ausschnitt aus einer TV-Dokumentation soll uns als Einstieg ins eisige Nass dienen:


Eine junge Frau steigt in eine Wanne, die etwa so groß ist wie ein altes Weinfass. In diesem Fall ist die Wanne grün, aus Plastik und steht auf ihrem kleinen Balkon. Sie ist bis oben hin mit eiskaltem Wasser und zahlreichen Eiswürfeln gefüllt. Eine kleine Klappleiter ermöglicht der jungen Frau den Einstieg. Der Bademantel fällt, im Bikini steigt sie auf die Treppe.


Die Kamera blendet ab. Dann sieht man sie erneut: sie sitzt nun in der Wanne, sogar das Gesicht ist vorn über untergetaucht. Der Countdown auf dem Handy läuft. Es klingelt. Einmal. Zweimal. Beim dritten Ringen entsteigt sie ohne Hast der Wanne, hüllt sich in ein dickes, flauschiges Handtuch und spricht freudestrahlend in die Kamera:



„Das ist so ein tolles Gefühl danach, wenn man draußen ist, und alles wird warm und man spürt wirklich jeden einzelnen Muskel. Und du fühlst dich danach auch so stark, also, ich muss danach immer Lachen, weil ich hab‘ mich gesammelt, ich fahr komplett runter, ich mach‘ meine Augen zu, ich konzentrier‘ mich nur auf meine Atmung. Alle Gedanken verschwinden, also es gibt nichts, an was ich denke, also wirklich Garnichts, es ist einfach nur Null.“



Von Goethe zu Wim Hof


Die Praxis des Eisbadens hat eine lange Tradition. Schon Goethe soll kalte Bäder geschätzt haben, ebenso wie die Winterbader in Russland oder die Kneipp-Anhänger des 19. Jahrhunderts. Heute ist es vor allem durch Wim Hof populär geworden, der mit seiner Methode aus Kälte, Atemübungen und Meditation eine weltweite Bewegung gegründet hat.


Wenngleich sich in der Selbstoptimierungs-Community aktuell darüber gezankt wird, ob Eisbaden nun tatsächlich zur Selbstoptimierung und Longevity beiträgt oder nicht – manche Studien würden positive Effekte zeigen, andere wiederum nicht – liegt das Phänomen nach wie vor im Trend.



Kälteanwendungen als Behandlungstechnik in der Psychiatrie


Auch in der Geschichte der Psychiatrie haben Kälteanwendungen, wie Eispackungen oder feuchte Umschläge, eine lange Tradition und werden seit dem 19. Jahrhundert als Behandlungstechnik für schwer psychisch Kranke angewandt. Wie der Psychoanalytiker Didier Anzieu zu berichten weiß, gibt es hier „Analogien zum afrikanischen Ritual des therapeutischen Begrabens oder zum eiskalten Bad der tibetischen Mönche“.


Noch Hannah Green schreibt in Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen, dass sie und andere Patientinnen in der Psychiatrie, in der sie damals aufgrund ihrer Schizophrenie behandelt wurde, regelmäßig Kältepackungen erhielten. Manchmal aus Strafe und Hilflosigkeit des überforderten Personals, anderesmal bat sie selbst darum, wenn die Stimmen der Schizophrenie zu laut wurden.



Omnipotenz und Regression


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Was passiert nun mit unserer Psyche im Eis? Anzieu, der nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch Autor des Buchs Das Haut-Ich ist, beschreibt es wie folgt:


„Nach einer relativen kurzen Phase der Angst, verbunden mit einem Gefühl, völlig von Kälte eingehüllt zu sein, kommt es zu einem Gefühl von Omnipotenz, von physischer und psychischer Vollständigkeit.“

Anzieu versteht dies als Regression, also als Rückfall auf frühere Entwicklungsstufen, auf ein ursprünglich unbegrenztes psychisches Selbst, in der der Körper (der ja immer auch Begrenzung bedeutet) noch nicht psychisch repräsentiert ist.


Das Haut-Ich (wie Anzieu die psychische Repräsentation des Körpers fasst) und das psychische Ich sind in dieser Erfahrung gespalten – eine Erfahrung von der auch Mystiker, Gruppenteilnehmer oder Künstler berichten würden.


Die Intensität der Kälte führt zu einer Spaltung, die lustvoll erlebt wird.


Da gibt es nur noch Psyche (griechisch: Atem), keinen Körper mehr, keine Grenze: „ ... es ist einfach nur Null“.


Das Wohlbefinden, so erfahren wir von Anzieu weiter, dass mit dieser Erfahrung einhergeht, sei zwar nicht von Dauer, aber könne durch Wiederholung der Eispackungen etwas verlängert werden.



Eis essen oder Eis baden?


Das Wohlbefinden allein erklärt aber noch nicht den therapeutischen Effekt. Würde es ausschließlich darum gehen, in einer Therapie das Wohlbefinden zu steigern, könnte man schließlich, weit weniger aufwendig, auch einfach ein Eis essen gehen, was bekanntlich bei vielen Menschen ebenfalls ein Lustgefühl hervorruft, wenn die Zunge mit dem süß-cremigen Kalt der Schokoladenkugel symbiotisch verschmilzt.


Der therapeutische Effekt der Eispackungen beruht vor allem darauf, dass der Patient nach der omnipotenten Glückserfahrung eine weiteren Erfahrung macht: jene einer körperlichen Hülle, die etwas anderes zusammengesetzt ist als jene Hülle, die ihn zuvor eingehüllt hat: einer Hülle, die nicht pathologisch besetzt ist, eine „Hilfshülle“.


Diese wird gebildet durch den thermischen Kontrast (zuerst kalt, dann warm, als Folge der peripheren Vasodilatation als Reaktion auf die Kälte) und durch den taktilen Kontrast (im Fall der Eispackung kleben die nassen und engen Tücher auf der ganzen Haut, im Falle des Eisbadens zunächst die Nacktheit im Wasser, dann das Anlegen der Kleider).


Die Intensität der Erfahrung sorgt dafür, dass der Kontrast intensiv (wenn auch nicht unbedingt bewusst) wahrgenommen wird und zu einer vorübergehenden Wiederherstellung des von den anderen getrennten und gleichzeitig mit ihnen verbundenen Ichs.


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Auferstehung aus dem Eis


Mithilfe der Intensität der Eiseskälte wird der Körper also verändert wahrgenommen. Zunächst ein Gefühl von Auflösung, Grenzenlosigkeit, Omnipotenz – dann, wieder eingehüllt, eine Art Neugeburt, wieder in schützenden Grenzen, aber ein wenig anders, weniger verspannt, weniger angespannt zusammengesetzt.


In eine „Membran des Lebens“ gehüllt, die sich ein wenig lebendiger, durchlässiger und sicherer anfühlt als jene zuvor.




Eisbaden als Versuch der Selbstheilung?


Was sagt es über unsere Zeit und unser Verhältnis zum Körper, wenn immer mehr Menschen Körperpraktiken bemühen, die lange Zeit in Psychiatrien angewandt wurden? Sind es verzweifelte Versuche, sich selbst zu heilen?


Nicht unbedingt: Anzieu weist darauf hin, dass auch Menschen ohne psychische Erkrankungen sich durch konkrete Erfahrungen von Zeit zu Zeit ihr Grundgefühl eines Haut-Ichs bestätigen müssten.


Schlüsselworte sind hier „von Zeit zu Zeit“: Wer ohne Eisbaden nicht mehr leben kann, geradezu getrieben davon ist, immer wieder ins eisige Wasser zu springen, dafür weit über körperliche Grenzen geht und den Verstand gleich mit einfriert, der kann schon überlegen, welche Motive ihn ins Wasser drängen. Auch missionarische Ambitionen – alle anderen Menschen müssten das unbedingt auch ausprobieren – könnten Hinweise darauf sein, dass der Missionar nicht so sehr anderen, sondern vor allem sich selbst helfen will.


Ebenfalls sind Parallelen zur, von Martin Grunwald entwickelten, unterstützenden Therapie der Anorexie mittels enganliegender Taucheranzüge, die ebenfalls als körperliche Hilfshüllen fungieren könnten, zu zeihen – aber das wäre bereits der Auftakt zu einem neuen Artikel.




In diesem haben wir die Praxis des Eisbadens zwischen Selbstoptimierung und Selbstheilung untersucht und erkannt, dass hinter so manchem Motiv sich zu optimieren, vielleicht auch der Versuch steht, eigenes Leiden zu heilen.


Wenn es sich in der eigenen Haut recht eng und ungemütlich anfühlt, kann das Eisbaden kurzzeitig davon erlösen. Und doch verdunstet die Hilfshülle immer wieder im Warm des Tages und drängt auf Wiederherstellung und Wiederholung.


Zu einer stabilen Hülle und reifen psychischen Repräsentation des eigenen Körpers führen Therapien mit Hilfshüllen nicht. Anzieu warnt:


Die Therapien mit ‚Hilfshüllen‘ (Eispackungen, Grotten, aber auch Massagen, Bioenergetik, …) zeigen nur eine kurzfristige Wirkung.

Dass sie aber eine Wirkung haben, wie man sie kurzfristig einsetzen und wie sie analytisch verstanden werden können, haben wir in diesem Artikel gezeigt.






Literatur


  • Anzieu, Didier (1996). Das Haut-Ich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

  • Green, Hannah (1978). Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen. Hamburg: Rowohlt.

 
 
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