Der Körper, der uns Welt war
- Senta Brandt
- 11. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Eine psychoanalytisch-feministische Skizze zum Muttertag
Der Muttertag ist ein kulturelles Ritual, das in der Regel zwischen zwei Polen oszilliert: sentimentale oder echte Dankbarkeit einerseits, gesellschaftskritische Reflexion über Care-Arbeit, Mental Load, Rollenerwartungen und Geschlechterungleichheit andererseits. Beide Perspektiven sind legitim und wichtig. Was in beiden Fällen oft übersehen wird:
Der mütterliche Körper ist nicht nur Fürsorgeinstanz, sondern auch ein Ort von Lust, Macht, Widerstand und Unerreichbarkeit.
Die radikale Nähe, die der mütterliche Körper einmal bedeutete, bleibt oft unausgesprochen. Was macht sie mit uns – und mit denen, die Mutter sind?
Dieser Text nimmt den Muttertag zum Anlass, um über Nähe, Begehren und den Körper nachzudenken, der uns einst Welt bedeutete. Nicht im biologischen Sinn, sondern als Erfahrung, die kulturell gerahmt ist und unsere Subjektwerdung strukturiert.
Der Diskurs „Mutter“
Mütterlichkeit ist kein bloß biologisches Faktum. Sie ist ein kulturelles Gefüge, ein diskursives Feld, das bestimmten Körpern bestimmte Bedeutungen zuweist – und damit auch Begehrensräume reguliert. Frauen werden bestimmten Subjektpositionen zugewiesen: als sorgende Wesen, als empathische Instanzen, als Projektionsflächen kindlicher wie gesellschaftlicher Erwartungen.
Dabei wird die Mutterfigur meist entweder überhöht und ideologisiert – als Inbegriff selbstloser Liebe – oder moralisch überfrachtet – als erste und letzte Verantwortliche für das emotionale Wohlergehen anderer und damit Verantwortungsfigur für alles, was schiefläuft.
Was oft fehlt, ist die Anerkennung von Mütterlichkeit als ambivalenter, leiblicher, begehrenstragender Raum.
Vorsprachliche Erfahrung
Zuerst war Haut. Töne. Berührung. Geruch. Spannung. Pulsierender Rhythmus.
Julia Kristeva nennt diesen vorsprachlichen Raum die semiotische Chora – einen affektiven Raum, aus dem Sprache erst hervorgeht; durchdrungen von Einschreibungen, die noch keine Zeichen sind. Ein Raum, in dem das Subjekt noch nicht zwischen Innen und Außen unterscheidet. Dieser Raum ist körperlich, rhythmisch, durchzogen von Berührung, Klang, Spannung – und eng mit der frühkindlichen Erfahrung der Mutter verbunden.
Noch lange bevor es jemanden gibt, der „Ich“ zu sagen vermag, und unabhängig davon, welche Bedeutung „Mama“ oder „Mutter“ einmal haben mag, ist da ein Anderer: der Körper der Mutter, oder genauer: der Körper, den wir als mütterlich erfahren.
Ein Körper, der so vertraut ist: ihr Geruch, ihre Stimme, ihre Berührung, ihre Haut – und so ambivalent. Quell von Lust und Unlust, von Spannung, Halt und Haltlosigkeit, Geborgenheit und Frustration. Grund und Abgrund zugleich.
Ein Körper, der Rätsel aufgibt, sich entzieht, der mal zu nah ist, und mal zu fern; der zur Projektionsfläche und Ort widersprüchlicher Fantasien wird.
Solche Erfahrungen hinterlassen Spuren, die nicht vollständig symbolisierbar sind. Sie wirken weiter: als Affekt, als Abwehr, als Begehren. Und sie prägen nicht nur individuelle Psychen, sondern auch kulturelle Deutungsmuster.
Was wäre eine Ethik, die diese leibliche Nähe nicht verdrängt, sondern reflektiert?
Die erste Kränkung
Vielleicht ist das die erste Kränkung: dass dieser Körper nicht verfügbar bleibt.
Dass das „Paradies“ endet – oder nie eines war.
Der mütterliche Körper ist ein mächtiger Topos. Und gefährlich vermint. Schnell kippt die Rede ins Esoterische, ins Essentialistische, in die Vereinnahmung.
Und doch kann dieser Tag ein Anlass sein, diesem Körper nachzuspüren, der uns einst Welt war. Nicht um ihn zu verklären. Sondern um zu erinnern:
Auch sie hat einen eigenen Körper.
Ein eigenes Begehren.
Jenseits der Verfügbarkeit: Die Ethik des Blicks und die Anerkennung des Nicht-Gegebenen
Ein Begehren, das weit über den Begriff der Mutter hinausreicht, das sich dem Namen „Mutter“ entzieht, ihn überschreitet, unterläuft, manchmal geradezu sprengt.
Ein Begehren, das nicht für andere da ist. Und gerade deshalb anerkannt werden muss.
Eine Ethik, die das ernst nimmt, müsste sich von der Idee verabschieden, die Mutter als Spiegel und Projektionsfläche unserer Bedürfnisse zu sehen und anfangen, sie als eigenes Subjekt anzuerkennen. Mit Geschichte, Geheimnis, Eigensinn, vielleicht auch Widerstand gegen die Rollen, die ihr zugeschrieben werden.
An einem Tag, an dem viele der Mutter danken für das, was sie gegeben hat, könnte man auch das anerkennen, was sie nicht gegeben hat.
Das, was sich dem Geben und Gegebenen entzieht
– und gerade dadurch Raum für ein eigenes Begehren eröffnet.