Wahnsinn und Gewicht
Über Diät-Päpste, Psy-Experten und eigensinnige Frauenkörper
Während Über- bzw. Mehrgewicht oft auf mangelndes Wissen über eine ‚richtige‘ Ernährung zurückgeführt wird (obwohl hierfür jede Grundlage fehlt), wird auch bei untergewichtigen Menschen der Intellekt angezweifelt – hier in Richtung: ‚verrückt‘ ‚psychisch gestört‘ - wenn sie es nicht schaffen, das Normkörperideal im Normgewicht zu erfüllen bzw. sich dem gar aktiv widersetzen. Ist es nicht erstaunlich, dass beide Extremgewichtsbereiche mit dem Vorwurf der mangelnden Vernunft einhergehen?!
Die rationale Denkfähigkeit abzusprechen ist eines der ‚beliebtesten‘ Mittel der 'Unterdrückung'. Hier lohnt es sich genauer hinzuschauen:
Mehrgewicht ist eines der letzten großen Tabus, wird aber nicht mit psychischer Krankheit verbunden, sondern mit Faulheit, Gier und Völlerei etc. erklärt. Die alten Todsünden werden bemüht, um Menschen auf Spur zu halten. Die Diät-Päpste von heute verkaufen unter dem Deckmäntelchen der Aufklärung das Erlösungswissen (‚du bist dumm und unwissend - ich helfe dir mit meinem Expertenwissen dich von Sünden zu befreien‘). Wer bestimmt, was Sünde ist bzw. die Schlankheitsgebote aufgestellt hat, wird kaum hinterfragt. Menschen, die dies tun, indem sie sich zB für Anti-Diskriminierung einsetzen oder den BMI entzaubern, sind dementsprechend oft den Anfeindungen der Gläubigen ausgesetzt.
Untergewicht ist gesellschaftlich ebenso gefährlich, da auch hier das Ideal eines reproduktions- und funktionsfähigen Leistungs- und Normkörpers, der seinen Wert also v.a. durch den Wert für andere erhält, in Frage gestellt wird. Während hungernde Frauen mit Mehr- oder oberen ‚Normal‘gewicht als vernünftig gelten, ändert sich dies im UG. Plötzlich gilt dasselbe Verhalten (!) als unvernünftig und wird pathologisiert. Die unmittelbaren Erklärungsansätze (Hungern um gesund/normschön zu werden) versagen. Da die Ärzte keine physiologischen Ursachen (zB in der Gebärmutter, altgriechisch hystéra) finden konnten, wurde - mit Aufkommen der Psychiatrie im letzten Jhd. - angenommen, dass ‚die Psyche‘ der Frauen gestört sein muss – anders kann man(n) es sich nicht erklären. Warum sollten Frauen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte hungern?
Die Körperschemastörung bietet ein einfaches, in sich logisches Erklärungsmodell, welches auf der Annahme beruht, dass die Frauen einfach nicht wüssten, wie dünn sie sind und also schlicht die Realität nicht richtig erfassen können.
Nun wird alles logisch und einfach für den Arzt/Psy-Experten, der nun (ähnlich wie der Diätpapst mit seinem Expertenwissen) den armen, unzurechnungsfähigen Wesen ritterhaft die Augen öffnen kann: „schau, wie dünn du bist – und nun iss, mein Kind, und sei mir dankbar, dass ich dich gerettet hab‘.“
Diese überspitze Darstellung trifft heute glücklicherweise bzw. hoffentlich nicht mehr zu. Heute hat man schon etwas mehr verstanden, dass das Hungern oder Überessen aus sehr rationalen Gründen gesucht werden kann, z.B. als emotionale Überlebensstrategie, Protest, weil es sich gut anfühlt etc. (vgl. den Beitrag zu verschiedenen Perspektiven auf Essstörungen). Da die 'Rationalität' der Motive aber nicht offen zu Tage tritt und gängigen Normvorstellungen widerspricht (z.B. ist nicht jedem einleuchtend, wie gut sich ein hungernder Körper für manche Menschen tatsächlich anfühlen kann) hält sich das Vorurteil, dass Menschen in Extremgewichtsbereichen nicht rational agieren würden, beständig. Implizit kann so das gesellschaftlich erwünschte Ideal eines reproduktionsfähigen Leistungskörpers verteidigt werden.
Welch' Befreiung kann es da sein, sich vom gesellschaftlichen Ideal eines ‚gesunden’ und ‚heiligen’ Körpers zu lösen und ein eigenes 'Körperideal' aufzustellen, dass sich nicht an der Norm, sondern an eigenen Werten orientiert.