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VII Mother India - Ein Fazit

Indien ist wild, chaotisch, sweet, gefährlich, nervenaufreibend, würzig, verführerisch, spirituell, intensiv ... rational nicht zu erfassen und in Worten schwer zu beschreiben: Indien ist eine Frau. Und damit ein Gegenpol zum effizienten, funktionalen, rationalen, linearen, reduktionistischen, materialistischen, domestizierten, kapitalistischen Westen. So scheint es zumindest es auf den ersten Blick. Und da der Schein gemeinhin genauso wirklich ist, wie die Wirklichkeit, ist damit auch schon einmal eine wertvolle Erkenntnis gewonnen.



Blickt frau genauer hin, ist es nicht mehr ganz so einfach. Der ganze Facettenreichtum der Lebendigkeit entfaltet sich doch erst im Tanz zwischen den Polen. Die polytheistische Götterfamilie bildet das wunderbar ab. Allein der männliche Pol wird durch die drei Götter Brahma, Vishnu und Shiva abgebildet, wobei jede Gottheit in unterschiedlichen Inkarnationen auftritt und je nach Inkarnationszeitalter und Gemahlin unterschiedliche Charakteristika aufweist. So wird Krishna, eine bekannte Inkarnationen Vishnus, nur mit Radha zum Götterpaar. Das Weibliche wird ebenfalls nicht nur durch feminin-liebliche Göttinnen abgebildet, sondern auch durch wilde Urgewalten wie Kali oder Durga. Statt dem einen Gott – und damit dem im Abendland noch immer tief verwurzelten Glauben an die eine einzige, objektive und richtige Wahrheit und Wirklichkeit – gibt es im indischen Götterhimmel eine bunte Vielzahl von Weltbildern und Göttern, die miteinander kombinierbar, aber niemals beliebig sind. Spiritualität wird nicht nur unterschiedlich er-, sondern auch ganz unterschiedlich gelebt:


Nordindien ist für mich tendenziell geprägt von den Rishis und Sadhus, den Asketen, die sich von der Welt und dem Körper abwenden und als orange Farbtupfer in den Himalaya ziehen, um sich dort in tiefe Meditation zu versenken. In Südindien herrscht dagegen die Brahmanen-Kultur, die Kultur der Priester und Gelehrten, vor, aber auch jene der sog. ‚householder‘, wie es Pattabhi Jois oder David Garrigues waren und sind: jene Lehrer, die versuchen, Spiritualität und Alltagsleben zu verbinden. Statt sich von Körper bzw. Materie abzuwenden, wird diese durchdrungen, positiv aufgeladen und so letztlich auch auf das Unendliche hin überschritten – immer die Gefahr mitlaufend, vom Kapitalismus gehijakt und zum trivialen Massenphänomen erniedrigt zu werden.


Am Beispiel des modernen (körperbasierten) Yoga wird deutlich, dass sich dieses polyvalente und multidimensionale Phänomen nicht einfach in die "secular vs. sacred"-Dichotomie sperren lässt. Für mich sind die Erfahrungen, die Praktizierende während ihrer Praxis erleben so faszinierend, dass ich sie zum Anlass nehme, eine Doktorarbeit über sie zu verfassen.


Indien war für mich eine wahnsinnig wundervolle, anstrengende und transformative Zeit. Vielleicht war die Erfahrung sogar so intensiv, dass sie zumindest für dieses Leben erst einmal reicht. Und doch beginne ich manchmal das nächtliche Kreischen der Natur, die schwüle Lebendigkeit und vor allem meine geliebten indischen Sonnuntergänge am Meer zu vermissen.


Nach meinem Re-Entry in Europa waren der Raum, die Weite des Himmels und die Stille unfassbar für mich. Mir ist bewusst geworden, wie sehr ich auch diese klare Weite und Ruhe brauche und liebe – und wie wenig selbstverständlich sie ist.

Und doch liebe ich auch den Seiltanz zwischen Askese und Hingabe, Säkularität und Spiritualität, Welt und Himmel, Apoll und Dionysus – und daher auch Indien, mit all seinen wundervoll bunten Göttern, dem Chaos, Lärm und der Gefahr, dem Lächeln und der Lebendigkeit.



Indien hat mich an meine Grenzen gebracht und mich über diese hinauswachsen lassen. Indien hat mich das Fließen zwischen den Polen gelehrt. Nicht ist fest und alles ewig. Ich hoffe, dass diese Zeilen dazu ermutigen, die eigene Reise anzutreten. Diese Welt ist eine gute Welt. Ich bin heil geblieben... viel heiler zurückgekommen als ich abgeflogen bin.


Mother India – I bow to you.






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