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VI Schlaflos in Mysore - Der Geburtsstadt des Modernen Yoga

Die letzten Wochen meiner Indienreise habe ich in Mysore (nahe Bangalore) verbracht. Hier lernte Sri K. Pattabhi Jois in den 1930er Jahren das Ashtanga Vinyasa System von seinem Lehrer T. Krishnamacharya, dem Vater des modernen Yoga. 1948 eröffnete Jois sein eigenes Yogashala. Ende der 1970er Jahre kamen die ersten Lernwilligen aus dem Westen und die Verbreitung des Ashtanga Vinyasa Yoga nahm seinen Lauf. Zahlreiche andere Yogastile entwickelten sich aus dem Ashtanga Vinyasa Systems (beispielsweise Power Yoga oder sog. Vinyasa Flow Yoga). Ebenso interpretiert jeder Lehrer diesen Stil etwas anders, wie beispielsweise David Garrigues, der auch Yogablöcke und andere Hilfsmittel einsetzt, um das System dem Menschen anzupassen und nicht umgekehrt. In Mysore wird das Ashtanga Vinyasa Yoga hingegen meist noch sehr traditionell unterrichtet. Ich war gespannt auf die neue Erfahrung.


Doch schon die Ankunft in Mysore verlief etwas holprig. Mit dem Quartier, dass ich erneut über WhatsApp gebucht hatte, hatte ich dieses Mal kein Glück. In dem Bett würde ich kein Auge zu tun. Also schnell ein neues Zimmer gesucht – und immer noch nicht gelernt, dass "schnell" in Indien nicht funktioniert. U.a. wollte mich – weiße Frau, zudem in Shirt und kurzer Shorts, da das laut Auskunft von Bekannten in Mysore ‚eigentlich‘ okay sei – kein Tuk-Tuk mitnehmen. Zwei voll verschleierte Frauen bemerkten meine Verzweiflung und luden mich – immer noch in Shirt und Shorts – in ihr Tuk-Tuk ein. Sie fuhren mich nicht nur zu einem guten Hotel, sondern zeigten mir die rettende „Ola-App“, eine Art Uber für Tuk-Tuks, die sie benutzen würden, um von Punkt A nach B zu gelangen (da offenbar auch verschleierte Frauen von männlichen Tuk-tuk-Drivern 'übersehen' werden ). Welch' wundervolle Erfahrung, diesen Zusammenhalt unter Frauen zu erleben!



Das Hotel sprengte zwar mein Budget, doch nach nun fast einem halben Jahr in Indien war mir westliche Sauberkeit und die Aussicht auf ein bisschen Stille jeden Cent wert. Ich fühlte mich wie im Palast von Mysore, der auf den Bildern oben abgebildet ist.


Die erste Yogastunde bei einem recht bekannten Yogalehrer, der in der Tradition von B.K.S. Iyengar unterrichtete, war hingegen eine Enttäuschung. Ich war noch so sehr in Davids Vibe, endlich in Einklang mit meinem Körper und nicht bereit mich einem strikt traditionellen Lehrer unterzuordnen, dessen Adjustments sich für mich weder gut anfühlten, noch aus einer anatomischen Perspektive nachvollziehbar waren. Unweigerlich fühlte ich mich an meine Erfahrungen im Ashram in Nordindien erinnert, der ebenfalls unter der Führung eines jungen Mannes stand, der den Balanceakt zwischen Moderne und Tradition zugunsten einer strengen Ausrichtung an der Tradition entschied. Doch anders als im Ashram war ich dieses Mal selbstbewusst genug, um mir eine erneut negative Erfahrung zu ersparen. Nach der ersten Praxis brach ich ab und stand dann erstmal ohne Lehrer da. Und das ausgerechnet in der Geburtsstadt des modernen Yoga! Alle anderen Lehrer waren bereits „ausgebucht“ oder hatten ihr Shala am anderen Ende der Stadt. So praktizierte ich ein paar Tage allein im Hotelzimmer – bis ich Nikhil von Indea Yoga fand. Ein junger, dynamischer Lehrer, der – wie auch David – das traditionelle System lehrte, aber auch auf individuelle Besonderheiten Rücksicht nahm, mich gezielt in meinen Stärken förderte, meine Schwächen genau wahrnahm und mir entsprechende Hilfestellungen und Anpassungsschritte zeigte, um die Schwächen in Stärken zu verwandeln. Nachmittags bot Nikhil außerdem Stunden zur Hüft- oder Schulteröffnung und -kräftigung an, die mich jedes Mal begeisterten und gut schlafen ließen – nachdem ich mich mit der Hotelrezeption verständigt hatte, dass die Beschallung des Hotelrestaurants zumindest nachts leiser gedreht wird. Selbst in Hotels der oberen Preisklasse sind die Wände dünn, die Nachbarn laut und die Rezeptionisten zwar freundlich, aber doch verwundert über die Sensitivität westlicher Ohren und eher wenig veränderungsbereit.


Wiederholte Lernerfahrung: Das große Indien wird sich nicht an dich anpassen - entweder du lernst damit zu leben, das Beste draus zu machen, dich anzupassen or: feel free to leave... auf noch einen Menschen mehr, hat hier keiner gewartet.



Zeit und auch Lust zum Sightseeing blieb angesichts der intensiven Yogapraxis kaum. Lohnende Highlights waren der Gemüsemarkt, der Mysore Palace (bei Tag und Nacht) sowie der schweißtreibende Aufstieg über 1008 Stufen des Chamundi Hills zum Chamundeshwari Temple. Die Treppenstufen werden von jungen Frauen mit Kreidestreifen versehen, die so den Weg in ihre Ehe mit Liebe und Reichtum ebnen wollen. Eine unglaubliche Arbeit in der Hitze jede einzelne Stufe zu bemalen! Das schafft frau nur mit indischer Gelassenheit, Geduld und liebender Hingabe.


Ich hatte indessen auch nach einem halben Jahr in Indien meinen schnellen Gang beibehalten und erstürmte die Stufen, glücklich über die Bewegung und das Pulsieren meines Herzens. Nur bei Nandi, dem Stier und Reittier Shivas legte ich eine kurze Pause ein und holte mir durch einen frischgepressten Zuckerrohrsaft die Energie für die letzten Stufen. Die Inder machten vor allem den Weg zur Attraktion und legten alle paar Meter gemütliche Pausen ein. Angekommen sind wir letztlich alle, hoch oben am Chamundeshwari Temple, der der Göttin Chamunda gewidmet ist, die den mächtigen, wilden und furchteinflößenden Aspekt des Weiblichen verkörpert. Als 'große Göttin' steht sie in engem Zusammenhang zu Kali und Durga, aber auch zur liebevollen Güte von Parvati, der Frau Shivas.



Kurz vor meinem Rückflug nach Wien wurde mir dann – ausgerechnet in einer der wohlhabendsten Städte Indiens – mein Portemonnaie gestohlen. Glücklicherweise gibt es Western Union – und meinen Papa! Die Anzeige bei der indischen Polizei gab mir außerdem noch einmal eine Möglichkeit, meine indisch-geschulte Geduld unter Beweis zu stellen. Es gelang mir mäßig.


Aber auch abgesehen von diesem Erlebnis hat mir Mysore nicht sonderlich gefallen. Die Bevölkerung erschien mir viel unfreundlicher als in den Südstaaten am Meer. Die Tiere führen auch hier, wie überall in Indien, ein trostloses Dasein. Wiewohl ich der Idee, sich die Hühner beim Schlachter noch lebend auszusuchen, durchaus etwas abgewinnen kann: sie würde vielleicht auch so manchen Billig-Fleisch-Konsumenten zum Nachdenken bewegen. Die Kühe haben es noch vergleichsweise gut. Die Straßenhunde und Katzen fechten in Rudeln, emanzipiert von den Menschen, ihre eigenen Kämpfe aus. Besonders betroffen machte mich das Schicksal der Pferde, die abgemagert in brütender Hitze vor dem Mysore Palast auf bespaßungswillige Touristen warten mussten. Wie kann ich Nietzsche verstehen, der einem solchen Geschöpf um den Hals fiel!


Übersättigt von all den wundervollen, aber auch schmerzlichen Eindrücken, die sich auch bei regelmäßiger Yoga- und Mediationspraxis nur schwer verarbeiten lassen, freute ich mich sehr – als durch das lauernde Corona deutlich wurde, dass sich meine lange Indienreise nun ihrem Ende annäherte – auf ein ruhiges und sauberes Europa, indem alles so reibungslos funktioniert. Indem die Armut, die Plastikberge und der Tod verdrängt werden können, weil man nicht täglich darüber stolpert. Indem Frauen vielleicht auch noch ein bisschen für das 'An-sich'-sein kämpfen müssen und sich selbst (neue, eigene) Werte setzen müssen, aber prinzipiell alles tragen und sagen können, was sie wollen (wiewohl grade dieses 'prinzipiell' deutlich macht, dass es so einfach doch noch nicht ist); indem Geldautomaten ad hoc funktionieren, indem es überall Haferflocken gibt, indem es Privatsphäre gibt, indem es zwar keine Kokosnüsse an jeder Straßenecke gibt, aber fließend sauberes Trinkwasser ... indem die Möglichkeiten nur darauf warten, beim Schopf gepackt und manifestiert zu werden: indem die große Freiheit wartet. Und dann landete ich tatsächlich in einer unermesslichen Stille. Corona. Lockdown. Größer konnte der Kontrast nicht sein.


Über meinen Re-Entry in Europa und mein Fazit über meine gesamte Zeit in Indien, schreibe ich hier.

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