Perspektiven auf Essstörungen
Essstörungen lassen sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Zumeist wird die Definition der Diagnosemanuale DSM/ICD herangezogen. Diese betrachten die Anwendung bestimmter Körperpraktiken wie Hungern, Überessen oder Erbrechen als spezifische Merkmale (sog. Symptome) von Essstörungen und schlagen weitere Kategorien zur Klassifizierungen von Essstörungen vor:
Die Anorexia nervosa, die Magersucht, ist gemäß der Manuale gekennzeichnet durch: Gewichtsverlust bzw. Untergewicht, die Angst vor dem eigenen Körper, eingeschränkte Nahrungsmittelauswahl, gestörte Körperwahrnehmung, übertriebene körperliche Aktivitäten (im Binge/Purge-Subtype auch Essanfälle, selbstinduziertes Erbrechen, Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika).
Die Bulimia nervosa, die Ess-Brecht-Sucht, weißt gemäß der Manuale folgende Symptomatik auf: wiederholt auftretende Essanfälle (‚Fressattacken‘), die gekennzeichnet sind durch ein Gefühl des Kontrollverlusts, sowie darauffolgende kompensatorische Maßnahmen, wie selbstinduziertes Erbrechen (nur im Purging-Typus), Missbrauch von Laxantien, Diuretika, Klistieren oder anderen Arzneimitteln, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung. Wie bei der Magersucht auch ist die Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts und der Körperform zentral.
Die Binge-Eating-Störung, die Essanfall-Störung, wird definiert durch das wiederholte Auftreten von Esssanfällen. Im Gegensatz zur Bulimie bleiben gegensteuernde Verhaltensweisen aus.
In erster Linie erleichtern diese Klassifizierungen die schnelle Abrechnung mit den Krankenkassen und dienen den Therapeuten als erste grobe Abschätzung, worum es auf Symptomebene geht. Die Diagnosekriterien sind jedoch nicht unumstritten. Die 'Körperschemastörung' bei Anorexie, wurde z.B. bereits seit der Aufnahme in die Diagnosemanuale in den 1980er Jahren kritisch diskutiert. Ebenso kritisch zu betrachten ist, dass die Diagnostik allein auf das Verhalten abzielt - das subjektive Erleben spielt hingegen keine Rolle. Zwischen äußeren Verhalten und inneren Erleben können große Diskrepanzen bestehen, die nicht selten zu Rückfällen in (vom Umfeld) überwunden geglaubte Muster führen. Essstörungen weisen eine hohe Chronifizierungsrate auf und gelten als eine der tödlichsten psychischen Erkrankungen.
Einige weitere Perspektiven auf Essstörungen (kein Anspruch auf Vollständigkeit)
Biomedizinische Ansätze
Essstörungen als physiologische Störungen, z.B. der Transmitter im Gehirn
Verhandlung von genetischen Komponenten
Psychotherapeutische & Psychiatrische Ansätze
Essstörungen als Pathologien, die ihre Ursache um Individuum oder der Familie haben, z.B.:
Verweigerung von Weiblichkeit
Dysfunktionale Familienstrukturen
bestimmte Persönlichkeitsmerkmale
Streben nach Autonomie und Kontrolle
Essstörungen als erlerntes Verhalten, Diäten als Risikofaktoren
Soziokulturelle Ansätze
Betonung des kulturellen Kontexts, d.h. die Bedeutung von Normen, Werten und Diskursen für die Entwicklung von Essstörungen
Essstörungen als legitime Krankheit um Leid auszudrücken (jede Epoche hat ‚ihre Krankheiten‘)
Essstörungen als kulturgebundenes Syndrom aufgrund westlicher Schlankheitsideale; jedoch Kritik wg. Ethnozentrismus (nicht allen essgestörten Frauen geht es ums Schlanksein und Erfüllung von westlichen Schönheitsidealen)
Reaktion auf gesellschaftliche Umbruchsituationen und daraus resultierender Verunsicherung; u.a. neue Anforderungen an Frauen v.a. auch nach Frauenbewegung (nicht nur Schönheitsideale, sondern auch neue Rollenanforderungen)
Unterwerfung unter patriarchale Schönheitsideale (u.a. Essgestörte als ‚Opfer der Medien‘ oder 'Opfer des Patriarchats')
Widerstand gegen patriarchale Schönheitsideale, da z.B. der abgemagerte Körper in der Anorexie dem weiblichen Schönheitsideal widerspricht, es geradezu karikiert;
Hungern als (mehr oder minder bewusst eingesetzte) politische Waffe
Essstörungen als Körperführungspraktiken, die die Grenzen und Krisen des Ideals vom männlich konnotierten autonomen Selbst und neoliberaler Körperführungsregimes aufzeigen
Phänomenologisch-Anthropologische Ansätze
Essstörungen als Regulation von Mit-Sein (Intersubjektivität), Selbst- und Weltbezug
Verweigerung von Sozialität und Leben
Gezielte Distanzsuche zu anderen und der Welt
pathologisch veränderte Weise des räumlichen In-der-Welt-seins
Transformation von existential feelings
Korporfizierung des Leibes: in der Essstörung wird der Leib zum entfremdeten und kontrollierbaren Körperobjekt
Konflikt zwischen Köper-haben und Leib-sein
Leibphänomenologischer Ansatz
Bisherige Ansätze deuten Essstörungen als Bewältigungsversuche für individuelle und/oder soziokulturelle Konflikte und deuten sie als psychosomatische Reaktion: Kopf gegen Körper. Damit bleiben sie einem Körper-Geist-Dualismus verhaftet. Auch der Begriff der ‚Psyche‘ - die allerorts behandelt wird - ist nicht einheitlich definiert.
Die Leibphänomenologie bzw. Neue Phänomenologie nimmt den Leib als die Voraussetzung für jegliche Erfahrung (auch für das Denken und Wahrnehmen) ernst und versteht Essstörungen nicht so sehr als gestörtes Zusammenspiel zwischen (den ohnehin fraglichen Konstrukten) ‚Psyche‘ und Körper, sondern als Störungen der Leiblichkeit.
Durch kulturelle Techniken wie das Diäten, Hungern, Überessen, Übergeben, Abführen, exzessives Sporttreiben etc. kann direkt in die leibliche Dynamik eingegriffen werden, um bestimmte Leibempfindungen zu evozieren. Hier geht es also um die Regulation ganz basaler Seins-Weisen In-der-Welt, das unmittelbare Leiberleben. Dieses wird zumeist durch das perzeptive Körperschema, aber auch durch die Narrative und Diskurse, die wir uns erzählen (lassen), verdeckt.
Statt um das Hungern/Überessen ‚um zu‘, geht es in der leibphänomenologischen Perspektive um das Hungern/Überessen selbst. Damit wird die Wichtigkeit, plausible Erklärungen für das eigene Verhalten zu finden nicht abgestritten, aber auch und vor allem das subjektive Erleben selbst ernst genommen, ohne es sofort in eine krank/gesund-Dichotomie zu zwängen. Wichtig ist hierbei, dass der Leib bzw. das leibliche Erleben nicht naturalistisch zu denken ist, sondern nur in seinen biografischen, historischen und gesellschaftlichen Bezüge verstehbar werden kann.