Nicht alle Frauen mit Essstörung tragen weisse Tshirts
Entstigmatisierung & Repräsentation von Essstörungen

Die Art der Darstellung von Essstörungen, die sich auf zahlreichen Homepages und Posts findet, ist weder gut gemacht (jede Frau mit Bulimie weiß, wie unpraktisch ein weißes Shirt ist), noch aus meinen Augen ethisch vertretbar:
Junge Frauenkörper werden einem fast schon voyeuristisch-fetischisierenden Blick in das private Badezimmer ausgesetzt und damit einmal mehr objektifiziert und verdinglicht.
Essstörungen werden außerdem auf naive, oberflächliche und uninformierte Weise inszeniert und damit trivialisiert und verharmlost.
Bestehende Stereotype - 1. Nur junge, weisse, schlanke Frauen haben eine Essstörung und 2. Bei Essstörungen gehe es ums Essen, Nicht-Essen oder Erbrechen - werden reproduziert.
Immer und immer wieder wird EIN Bild gezeigt und damit in den Köpfen aller verfestigt.
Das hat u.a. zur Folge, dass die Scham, und damit auch das seelische Leid, bei jenen, die dieses EINE Bild von Essstörungen nicht erfüllen, tendenziell steigt. Außerdem sind Essstörungen keine lieblichen und sozial verträglichen Phänomene, sondern mitunter v.a. aggressiv, schmerzhaft, dunkel. Sie haben nichts Glamouröses an sich. Offenbar noch immer ein Problem, wenn Frauen – selbst im Schmerz! – nicht passiv-zart- unschuldig sind.
Mögliche Gründe für diese Art der Darstellung einer Art Hochglanz-Bulimie ohne Bulimie, des Produkts ‚Bulimie ©‘
Neben dem Fakt, dass Bilder schneller emotionalisieren und damit mehr Aufmerksamkeit (die Währung im 21. Jahrhundert), und damit €€€€, auf sich ziehen als Text, kann ich nur Zizek (in: Zizek, S. (2019). Lacan. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Fischer) zustimmen:
"Auf dem heutigen Markt finden wir eine ganze Reihe von Produkten, die ihrer schädlichen Eigenschaften beraubt sind: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol und so weiter. Und was ist mit virtuellem Sex ohne Sex, der Colin-Powell-Doktrin vom Krieg ohne Opfer (auf unserer Seite natürlich), als Krieg ohne Krieg, der zeitgenössischen Neudefinition von Politik als Verwaltung durch Experten und folglich Politik ohne Politik, bis hin zum heutigen liberalen Multikulturalismus als Erfahrung des Anderen ohne seine Andersheit (der idealisierte Andere, der faszinierende Tänze kennt und sein ökologisch tadellose holistische Einstellung zur Wirklichkeit hat, während Merkmale wie das Verprügeln von Frauen ausgeblendet bleiben)?
Die virtuelle Realität verallgemeinert einfach dieses Verfahren, ein Produkt anzubieten, das seiner Substanz beraubt ist:
Sie stellt die Realität selbst ohne ihre Substanz zur Verfügung, ohne ihren harten Kern des Realen – so wie entkoffeinierter Kaffee wie echter Kaffee duftet und schmeckt, ohne das echte Ding zu sein, wird die virtuelle Realität als Realität erfahren, ohne wie sie zu sein. Alles ist erlaubt, man kann alles genießen – unter der Bedingung, daß es seiner Substanz beraubt ist, die es gefährlich macht."
Eine Als-Ob-Realität, mit bunten Bildern, ohne Erwachsenensprache... So lässt sich auch Bulimie abbilden:
Abbild von Leid, ohne den Zuschauer allzu sehr zu verstören. Er kann ganz Voyeur bleiben, ohne sich wirklich vom Leid berühren zu lassen, fühlt sich anschließend aber doch 'gut informiert' und ggf. auch einmal mehr in seinem Bild über Bulimie - eine Mode-Krankheit zarter Frauen - bestätigt.
Mögliche Lösungen
Sollte die Darstellung der Betroffenen von Essstörungen diverser gestaltet sein? Auf den ersten Blick erscheint das als gute Idee, geht aber am Problem der adäquaten Repräsentation von SEELISCHEM Leid vorbei. Man will ja nun nicht auch noch die anderen Frauen fetischisieren!
Also mehr die Schattenseiten zeigen? Mehr Dreck auf den Bildern? BITTE NICHT! Auch diese Art von Bildern gibt es bereits genug. In manchen Kreisen scheint ein regelrechter Wettlauf entbrannt, wer das schockierendste Bild veröffentlicht. Mit Entstigmatisierung hat das rein gar nichts zu tun, allenfalls mit Aufmerksamkeitsmarketing.
Also gar keine Bilder mehr zeigen?
Das wäre für all jene, die das nicht auf eine ethisch vertretbare Art und Weise hinbekommen, eine wunderbare Lösung. Irgendwann (ich persönlich denke: es ist dafür allerhöchste Zeit!) darf man sich auch gesellschaftlich aus dem Bilderbuch-Alter befreien (Kunst natürlich ausgenommen: Bildern, welchen es gelingt, seelisches Leid einzufangen und auszudrücken, sind super wertvoll! Klobildchen von nicht-erbrechenden Erbrechenden sind es nicht).
Glücklicherweise haben wir bereits tolle Alternativen zu blank geputzt, reinen WC-Bildchen, um Taillen gewickelte Maßbänder oder leeren Tellern mit Trauersmiley:
Wir haben andere Symbole und Zeichen, mit welchen wir kommunizieren und uns verständigen können: sie nennen sich BUCHSTABEN, die, sinnvoll zusammengefügt, WÖRTER und SÄTZE ergeben, die als BEGRIFFE, ZEICHEN und METAPHERN dienen können (hier lohnt es, bei Althusser, Wittgenstein oder auch Cassirer nachzulesen!).
Wir haben SPRACHBILDER!!! Diese haben den großen Vorteil, mehr als eine Bedeutung zuzulassen und damit der Vereindeutigung und Kommodifizierung von Essstörungen in Essstörungen© entgegen wirken zu können.
Bringt der Verzicht auf Bilder weniger Aufmerksamkeit und Likes mit sich? Vermutlich - und aus eigener Erfahrung: gewiss! Eine Gewissensentscheidung ist also gefragt. Und die ist glücklicherweise frei und kann nur individuell beantwortet werden.
Das bedeutet: Die Entscheidung was, wie und wo, gezeigt wird, bleibt natürlich jeder und jedem frei überlassen. Allerdings ist Freiheit nie ohne Verantwortung zu haben: man ist dann auch für das, was man postest und das Leid, dass damit erzeugt wird, VERANTWORTLICH.
Grundprinzip: Erst Denken, dann Posten – nicht immer gelingt es. Aber doch ein bewährtes Prinzip ;)
Und etwas lauter formuliert:
Der Zweck (zB Bildchen für den Internetauftritt zu haben) heiligt auch hier NICHT die Mittel. Hört bitte auf, die Körper von Frauen zu verdinglichen, fürs Marketing zu (miss) brauchen, zu fetischisieren und ihre Leiderfahrungen - sowie die all jener Frauen und Männer, die nicht in das Normbildchen von Essstörungen© passen - zu bagatellisieren und trivialisieren.
Deutlicher vermag ich meine Bitte kaum auszudrücken.
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Auslöser für den Artikel/Post ist die Darstellung von Frauen mit Essstörungen in den Medien und auf den Webpages von Klinken, Aufklärungsportalen etc. Nachdem ich den Artikel/Post auf Instagram veröffentlicht habe, erhielt ich zahlreiche Zuschriften von Betroffenen, die meine Sicht teilen. Damit es nicht bei der Empörung bleibt und um einen tatsächlichen Impact in der analogen Welt zu erzeugen, habe ich daher eine Mail-Vorlage erstellt, die gerne genutzt werden kann, um Einrichtungen, RedakteurInnen und Homepage-InhaberInnen auf den problematischen Gebrauch derartiger Bilder hinzuweisen. Und bereits eine Antwort von ‚gesundheit.gv.at’ erhalten, dass sie ihre Bildauswahl überdenken werden.
Betreff: Repräsentation von Essstörungen auf Ihrer Homepage "www. ... "/im Medienbeitrag xy
Sehr geehrte Damen und Herren, die Welt wird bunter, diverser und zunehmend sind auch psychische Störungen kein Tabuthema mehr. Dazu tragen auch Informationsseiten wie die Ihre bei. Leider unterliegen Essstörungen immer noch einem gesellschaftlichen Stigma, insofern die weit verbreitete Auffassung herrscht, dass Essstörungen als eine Art Luxusproblem nur junge, schlanke (‚hysterische‘) Frauen aus den höheren Einkommensschichten betreffen würden und also nicht wirklich eine ernstzunehmende und komplexe psychische Erkrankung darstellen. Den von ihnen, in Textform, dargestellten Informationen entnehme ich, dass Sie diese Ansicht nicht teilen und über die Komplexität dieser Erkrankung gut informiert sind. Oft sagen Bilder jedoch mehr als Worte. Werden auf Informationsseiten, die über Essstörungen aufklären wollen, fast ausschließlich Bilder von weißen, jungen Frauen verwendet, wird das Stereotyp von Essstörungen vermutlich unbeabsichtigt, aber zum Leid der Betroffenen eben doch, eher weiter verstärkt denn vermindert. Beispielsweise werden alle nicht-weißen, älteren, anders-gewichtigen, anders-geschlechtlichen, etc. Menschen nicht repräsentiert und damit vom Diskurs ausgeschlossen. Ferner werden die Bilder – und dies wird am Beispiel ihres für ‚Bulimie‘ verwendeten Bildes (hier ggf. einen Link einfügen, damit die Bezugnahme deutlich wird) – besonders deutlich, noch nicht einmal jenen Frauen gerecht, die das Stereotyp erfüllen. Zur vertieften Auseinandersetzung mit der Problematik vgl. z.B. hier: https://www.sentabrandt.com/post/nicht-alle-frauen-mit-essst%C3%B6rung-tragen-weisse-tshirts [Im Original schrieb ich: "Ausdruckstark habe ich die ganze Argumentation hier formuliert: https://www.sentabrandt.com/post/nicht-alle-frauen-mit-essst%C3%B6rung-tragen-weisse-tshirts und zahlreiche Zuschriften von Betroffenen, ehemaligen Betroffenen und KollegInnen erhalten, die eine andere Art der Repräsentation von Essstörungen (bis hin zum vollständigen Verzicht auf Bilder, so wie ich das - aus psychologisch informierter Sicht - vorschlage) ebenfalls sehr begrüßen würden." =>> ggf. lassen sich ähnliche Sätze finden, das ist aber mMn nicht unbedingt notwendig.] Um zu einer wirksamen, und für die Betroffenen hilfreichen Form der Entstigmatisierung beizutragen, bitte ich Sie daher, die Bildauswahl zu überdenken. Für Rückfragen und weiteren Diskurs stehe ich gerne zur Verfügung [bei Bedarf kann hier gerne auch auf mich verwiesen werden]. Mit freundlichen Grüßen Name