Kontrolle und Macht – Jenseits von Gut und Böse drüber nachgedacht
Ständiges Zählen, Messen, Wiegen, Planen…der verzweifelte Kampf um Kontrolle und wie frau ihn beendet, beschäftigt viele Frauen (und Männer) mit Essstörung oder im Diätenkreislauf. Die Frage, wie man die Kontrolle ‚wegbekommen‘ kann, ist im Diskurs über Essstörungen denn auch recht dominant und kann (natürlich) pauschal von mir nicht beantwortet werden. Daher entwerfe ich nur mal zwei Extrempositionen, die das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und tue dies (natürlich) nicht neutral, sondern übernehme Verantwortung für meine subjektive Sichtweise, statt mich hinter einem Objektivitäts-Experten-Gebaren oder in einem anonymen Off (das es ohnehin nicht gibt – auch Forscher und Therapeuten sind Menschen) zu verstecken. Also los: auf Los:
Lass los!
Auf der einen Seite positioniere ich die Loslassen-PredigerInnen. Sie nehmen die Frage, wie frau die Kontrolle loslassen kann, wörtlich und antworten recht tautologisch: indem sie sie loslässt. Sie soll wahlweise dem Leben, dem Körper oder der Natur vertrauen – und damit gegen ihre Impulse (die sie ja grade nicht zum Loslassen animieren) handeln. Statt zu versuchen diese Impulse – und damit auch die Frau, von der sie ausgehen - zu verstehen, wird mit Imperativen ‚argumentiert‘: Liebe Dich Selbst! Vertraue Dir! Lass los! Dass es grade kein Zeichen von Selbstvertrauen ist, die Imperative anderer blind zu befolgen, bleibt unbedacht.
In diesem Kontext wird denn auch gerne die (‚typisch weibliche‘) Hingabefähigkeit (wohin und wem eigentlich: Haushalt, Mann und Kindern?) gelehrt. Sie soll Self-Care betreiben, ihr ‚inneres Kind‘ heilen, Mantren trällern und loslassen, sich fallen lassen, sich hingeben an irgendeine biologistisch bis metaphysisch gedachte, immer-gute Essenz wie DEN Körper, DIE Natur etc.
Nun ja. Wie der aufmerksamen LeserIn nicht entgangen ist, bin ich dieser äußerst beliebten Position - mit der sich recht viel Geld verdienen lässt, da sie so gut zum Common Sense passt - recht skeptisch gegenüber eingestellt: im besten Fall bleibt sie nutzlos, im Schlimmsten – und das ist der Grund, warum ich sie überhaupt thematisiere und mich so stark positioniere – richtet sie Schaden an, da zum Beispiel Hingabe ans Trauma, dass sich, wie wir wissen, auch immer im Körper manifestiert, wohl ist nicht der beste Rat ist. Auch ist es unverantwortlich eine Nicht-Schwimmerin zum Sprung vom 5-Meter-Turm aufzufordern (wie wir weiter unten sehen werden, ist Selbstregulation (bzw. das hohe Maß an Selbstregulationsfähigkeit, wie es die moderne Gesellschaft verlangt) durchaus - wie die Sprache - eine Fähigkeit, ein Potential, dass erst entfaltet werden muss. Und DIE Natur ist (wie auch DER Körper) oft gar nicht so immergut, wie sie bzw. er so gerne romantisch verklärt wird.
Sind Tornados, Überschwemmungen, stille Seen, liebliches Grillenzirpen und Amselsingen am Morgen,
Hitzewüsten, Hungerwinter, Gletscherkälte, wilde Löwen und anschmiegsame Hauskätzchen nicht vielmehr: ‚Jenseits von Gut und Böse‘?!
DIE Natur, wie sie uns erscheint, ist, so viel kann doch gesagt werden: gewaltig! Und wie der Mensch, als natürliches Kulturwesen überhaupt zur Natur steht (ihr gegenüber oder untrennbar verwoben), eine Frage, deren volle Entfaltung den Rahmen hier ganz sprengen würde. Daher schnell zur zweiten Position (die sie zumindest im Kleinen doch entfaltet…):
Den Loslassen- und Hingabe-Predigerinnen stelle ich jene gegenüber, welche sich von einer kindlich-romantischen Naturauffassung emanzipiert haben und denen vermutlich auch Nietzsche und sein Konzept des Willens zur Macht nicht fremd ist (das war zum Beispiel u.a. auch Sigmund Freud, der sich recht intensiv mit Nietzsche auseinandergesetzt und sich mMn recht viel von ihm inspirieren hat lassen). Diese hören sich die Frage - wie man es schafft ‚von der Kontrolle wegzukommen‘ – aufmerksam an, halten kurz inne und wundern sich:
„Das ist doch recht paradox: warum will da jemand WENIGER Kontrolle? Ist Kontrolle und Macht nicht auch etwas Wundervolles? Die Voraussetzung für große Kunst und kreative Schaffenskraft? Kommt es nicht zuerst und zunächst darauf an, was frau mit der Macht macht?!“
Sie erinnern sich daran, dass man den Menschen in der christlich-abendländischen Tradition immer schon lieber als zartes Schäflein denn als mächtigen ‚bösen‘ Löwen hatte. Hingebungsvolle Schafe sind leichter zu regieren und zu bepredigen als mächtige und eigensinnige Löwen – das wissen nicht nur die Hirten.
Lässt sich frau auf diese Gegenfrage, was an Kontrolle denn schlecht sein soll und damit auf die Infrage-Stellung der traditionellen Moral ein – was per se schon eine Herausforderung ist – muss sie sich dann allerdings auch noch mit zumindest einer der beiden weiteren Fragen herumschlagen:
Option a: Sie besitzt tatsächlich Kontrolle über sich, setzt sie aber zu destruktiven Zwecken ein
Dann kann sie sich Fragen: Was mache ich mit meiner Macht und warum und wozu? Geht es wirklich darum, dass ich Kontrolle aufgeben und loswerden will, oder geht es darum, dass ich sie zu destruktiven Zwecken einsetze? Ist letzteres der Fall, so steht nicht mehr die ursprüngliche Frage nach dem ‚Wie werde ich die Kontrolle los‘ im Vordergrund, sondern die Klärung, welchen Sinn ihre destruktiven Tendenzen haben. Warum und wozu setzt frau ihre Kontrolle gegen sich, statt für sich, ein? Warum tut sie nicht, was sie glaubt, tun zu wollen? Wonach strebt sie, strebt es in ihr, wirklich? Was davon kann sie annehmen? Wie gewaltig und mächtig darf sie werden? Wie weit vom common sense traut sie sich zu entfernen? Erlaubt sie sich gar ein bisschen mit der Macht, auch mit deren Schattenseiten, zu spielen? Sie an den Grenzen auszutesten? Hat sie schon Simone de Beauvoirs „Soll man de Sade verbrennen?“ gelesen? Und falls ja: kann sie es mir empfehlen?
Option b: Sie ist gar nicht im Besitz von Kontrolle, die sie vorgibt, so sehr loswerden zu wollen. Ergo: was man nicht hat, kann man auch nicht loslassen.
Was bedeutet Kontrolle haben eigentlich? Wehe dem, der sich vom äußeren Anschein der Begriffe blenden lässt! Nutzen wir doch lieber unser Reflexions- und Differenzierungsvermögen um noch genauer hinzuhören, hinter die Worte zu blicken, versuchen ihren Sinn zu verstehen.
KONTROLLE
Nun sind wir, wenn wir uns dem Begriff der Kontrolle annähern, gleich mitten in einem Jahrtausende andauernden Diskurs, der sich um die Fragen der Autonomie und Willensfreiheit dreht. Wer hat Kontrolle über wen und ist das überhaupt möglich?
Um es abzukürzen und damit sehr stark verkürzt darzustellen, wieder eine kurze Darstellung der Extrempositionen:
Vertreter einer jüngst wieder sehr populär gewordenen Position meinen, dass der Mensch vollständig determiniert ist (von wahlweise der Umwelt, Stimuli, Genen oder Gehirn) und damit jegliche Vorstellung, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten - Kontrolle über es auszuüben - ohnehin Illusion ist (zB finden sich hier viele Post- und Transhumanisten, Neuroreduktionisten & Behavioristen uvm) . Allenfalls kann (und muss) der Mensch durch äußere Techniken verbessert werden. Aus ihm selbst heraus, vermag er nichts Neues zu entfalten. Daher feiern die Transhumanisten auch den Maschinenmenschen - vor dem Harari zumindest noch ein wenig warnt.
Und dann gibt es (in aller Verkürzung dargestellt) jene Positionen, die den Menschen als leiblich verkörpert, sinnhaft handelnden Menschen, der durchaus zur Freiheit begabt ist, verstehen. Nur unter dieser Perspektive macht es daher überhaupt Sinn von Autonomie und Selbst-Kontrolle - im Sinne zB von kybernetischer Selbst-Steuerung - zu sprechen. Hier ist also keine absolute Autonomie gemeint, aber doch zumindest eine relative Autonomie, die sich zwischen den Polen der völligen Fremd- und völligen Selbstbestimmung ansiedelt.
Gleichzeitig ist in der Moderne die Fähigkeit, sich selbst zu steuern, so gefragt wie nie zuvor. Lebten Generationen vor uns noch im festen luft-abschnürenden, aber Sinn und Halt gebenden Korsett der traditionellen Werte und Normen, sind wir heute (nach dem von Nietzsche diagnostizierten 'Tod Gottes') zur Freiheit verdammt – andere sagen: privilegiert. Wir sind heute Individuen und damit wie nie zuvor verantwortlich für die Entscheidungen, die wir großteils ganz allein für unser Leben treffen müssen, manche sagen: dürfen.
Der freie Markt braucht freie Subjekte und autonome Entscheidungsträger, die im Produktionsort 'Familie' hergestellt werden sollen, der allerdings auch in der Auflösung begriffen ist. Das kann man finden, wie man will: einige verzweifeln daran, andere schaffen es der Freiheit auch etwas Positives abzugewinnen. Gleichzeitig wird die Welt immer polyvalenter (vieldeutiger) und braucht ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz, um sich zwischen den Wirren und dem Verlust von absoluten Sicherheiten hindurchzusteuern. Leider lernt man das (auch) in der Schule kaum, die vor allem „Trivialitätsmaschinen“ produziert (wie das Heinz von Förster so schön formuliert hat), die lernen auf Input den immer gleichen Output auszuspucken. 2+2=4 und niemals grün. Wobei grün doch eine viel interessantere Antwort wäre. Wie kommt jemand auf grün?! Was für ein Wunder!
Sich autonom durch eine immer komplexere Welt zu steuern, die dann auch noch konstruktivistisch oder zumindest dynamisch konstituiert (also nicht dem Subjekt gegenüberstehend, sondern von ihm konstruiert oder aufs engste mit ihm verwoben) zu denken ist, ist eine wahnsinnige Herausforderung, die hohe Fähigkeiten der Selbstregulation verlangt. Das gab es in der Menschheitsgeschichte noch nie.
Daher darf es auch nicht beschämen, wenn ich nun schreibe, dass es vielfach nicht darum geht, die Kontrolle abzugeben, sondern vielmehr darum, Kontrolle über sich zu gewinnen!
Au weh! Das ist nun ggf. schon wieder eine ziemliche Zumutung für die LeserIn! Erst wird die Moral umgedreht und jetzt wird sie auch noch damit konfrontiert, dass sie keine Kontrolle über sich haben soll. Zwar ist sie damit in guter bzw. überwiegend recht infantiler Gesellschaft, aber auch das ist nur ein schwacher Trost.
Andrerseits ahnt sie das mitunter ohnehin: ist doch grade das Unvermögen die ‚Kontrolle‘ aufgeben zu können, ein Zeichen ihrer Abhängigkeit! Ein Zeichen vielleicht auch dafür, wie unsicher und unbeholfen sie sich ohne äußere Maßstäbe, ohne äußere Werte, die ihr sagen, wie sie zu leben hat, fühlt. Eigene Werte aufzustellen und die Verantwortung zu ergreifen, nach ihnen zu leben, bedarf einer ungeheuren Emanzipationsanstrengung.
Nicht zuletzt sei darauf verwiesen, dass wir zum Erlernen von Selbst-Sein und den eigenen Grenzen, existenziell auf andere angewiesen sind. Selbstregulation lernt sich äußerst schlecht allein! Vor allem die frühkindliche Entwicklung wurde als entscheidend für ein selbst-reguliertes, autonomes Subjekt erkannt (s.o.: 'die Familie als Produktionsort'; vergl dazu auch Rose, N. (1990). Governing the soul: The shaping of the private self. Taylor & Frances/Routledge.). Hier kann viel gut gelingen, aber auch viel schiefgehen. Fehlt die Fähigkeit zur Selbst- und Affektregulation oder ist in ihrer Entwicklung gehemmt, werden meist wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg zum Erwachsen-werden nicht möglich oder stark erschwert, mitunter nur mithilfe von Symptomen als Hilfskonstruktionen (als eine Art Gehstöcke oder Prothesen) möglich, die es zwar mehr schlecht als recht, aber immerhin noch erlauben, irgendwie für eine Zeit lang zu funktionieren. Nach außen hin mag man dann Erwachsen erscheinen. Auch das Mitspielen in den üblichen Gesellschaftsspielen, bei welchen es noch klare Spielregeln gibt, fällt vergleichsweise leicht. Auf ungeregelten Terrain, ohne feste Werte, wie es zwischenmenschliche Beziehungen sind, werden die Entwicklungsdefizite eher spürbar. Und wer nie gelernt hat, die eigenen Bedürfnisse (zB Hunger) und Wünsche wahrzunehmen, wird sich in der Selbstregulation ebenfalls ungemein schwer tun und nach Halt gebenden äußeren Strukturen (zB Tracking Apps) suchen.
Unter dieser Perspektive ist also nicht so sehr Loslassen, sondern 'Nachreifung' gefragt, will man sich von äußeren Zumutungen - als die sich die Tracking-Apps auf lange Sicht erweisen - befreien. Und tatsächlich sind in den meisten Therapieansätzen, Aspekte wie 'Stärkung von Ich-Funktionen‘, ‚Emotionsregulation‘, ‚Reifung‘ oder wie Hilde Bruch es nannte „Lernen zum eigenen Gravitationszentrum zu werden“ zentrale Behandlungsaspekte. Auch wenn man dort vom bösen Wörtchen Macht eher ungern spricht, geht es vielfach genau darum: Selbstermächtigung. Erwachsen werden. Reife.
Die Methoden, die dazu eingesetzt werden, unterscheiden sich beträchtlich und reichen von jenen, die meinen, man müsse dem Pflänzchen nur mal erklären, wie es denn zu wachsen hat und anderen, die es tatsächlich gießen und mit wärmender Sonne umsorgen (was auch heißen kann: es dazu zu ermuntern, sich ein tolles Sonnenplätzchen zu erschaffen).
Step by step
Lässt sie sich auf ihre Weiter-Entwicklung und ihr Wachstum ein, wird sie sich eines Tages, step by step, von ängstlichen Allmachtsfantasien (der Glaube an die unipolare starke Autonomie) verabschieden können. Als leibhafte Kybernetikerin wird es ihr spielerisch gelingen loszulassen, oder noch genauer: sie lässt los. Loslassen kann frau nicht erzwingen. Sie wird los(ge)lassen, lernt, die Knotenstärke einzuschätzen, ihren Flügeln zu vertrauen, den Wind strömen zu lassen, sich mutig aufschwingt, den starken Wellentanz genießt…
Gibt es etwas Schöneres und Mächtigeres, als sich an das Leben hinzugeben?