Für Eltern - und Besitzer kleiner Hausneurosen
„Nicht zu versuchen, ihre Tochter zum Essen zu bringen oder zu wiegen (ihr Körper ist ihre Angelegenheit); sie nicht als krank abzustempeln oder wie ein hilfloses Kind zu behandeln; mit ihr über ihre Probleme und Gefühle offen und akzeptierend sprechen; sie zu ermutigen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, ohne daraus eine moralische Angelegenheit zu machen; sie dabei zu unterstützen, sich selbst zu lieben und zu akzeptieren; sie eigene Entscheidungen treffen zu lassen und sie dazu ermutigen; und selbst keine allzu große neurotische Haltung an den Tag zu legen, was die eigenen Eßgewohnheiten und das eigene Körpergewicht betrifft.“
Das Zitat stammt aus einer Informationsbroschüre von Anorexic Aid, einer US-Selbsthilfeorganisation für Eltern essgestörter Mädchen aus dem Jahr 1979. Immer noch brandaktuell - bis auf den letzten Punkt. Im Original steht dort noch "und keine neurotische Haltung an den Tag zu legen, was die eigenen Eßgewohnheiten und das eigene Körpergewicht betrifft."
Ich war so frei den letzten Punkt an die Weltlage des 21. Jhd.s anzupassen:
Wer es schafft sich keine ‚allzu große‘ – dies ist die Adaption – Neurose in Bezug auf die eigenen Esspraktiken und Körpermaße anzueignen, kann sich wahrlich glücklich schätzen. Zumindest eine kleine Laktose-Unverträglichkeit gehört für die moderne Großstadtbewohnerin heute einfach zum guten Ton. Auch eine leichte Körperunzufriedenheit ist aus dem neoliberalen Grundrauschen, das hin und wieder im kalten, morgendlichen Neongelb des Badezimmerspiegels durch die moderne Ü30-Psyche rauscht, einfach kaum noch herauszufiltern.
Als Teil des Unbehagens der Kultur, in der es sich doch zu leben lohnt, müssen wir wohl oder übel lernen, damit umzugehen – oder wollen wir alle wieder in den spiegellosen Urwald ziehen (solange es ihn noch gibt)? Meist wäre der aber ohne modernen Mückenschutz und co. auf Dauer wohl dann doch vielen viel zu natürlich.
Ist das Spiegelstadium erst einmal überschritten, ist es einfach nicht mehr aufzuhalten.
Mitunter ist es ratsam, sich eine Geste der Distanz in Bezug auf die eigene Neurose anzugewöhnen und sie aus ironischer Perspektive zu betrachten - statt sich von ihr ironisch betrachten zu lassen. Welcher Künstler empfahl einst, sich eine kleine Neurose zum Haustier zuhalten, um nicht ganz so allein vor dem Spiegel zu stehen? Auch kann das kritisch-reflektierte Selbst- und Kulturverhältnis zum Anlass genommen werden, mit dem Kind zusammen ein bisschen Gesellschaftskritik zu betreiben.
Wer das nicht kann oder will, weil die Neurose tatsächlich zu ernst geworden ist (oder schon immer war) und sie eher aus biographischen denn kulturellen Bezügen zu verstehen ist (wenngleich das ja nie so ganz zu trennen ist), dem empfiehlt es sich, nicht nur professionelle Unterstützung fürs Kind, sondern auch für sich selbst, zu suchen.
Dies kann auch zur Unterstützung der Umsetzung der anderen Punkte der Infobroschüre hilfreich sein. Ein Familienmitglied mit einer Essstörung ist immer auch eine Herausforderung für das ganze Familiensystem und lädt mitunter nicht nur zur Reflexion der Ernährungs- und Körperpraktiken, sondern auch von Praktiken der Beziehungsgestaltung und Kommunikationsmuster ein.
Schön längst geht es in modernen Psychotherapien nicht mehr darum, den Eltern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das ging es Ihnen im Übrigen auch früher nicht. Zumindest die Psychoanalyse dürfte im kollektiven Bewusstsein ähnlich fehlrepräsentiert sein wie Essstörungen.
Persönlich erachte ich die Empfehlung, die Autonomie und Grenzen des Kindes zu achten, als die wichtigste. Wer das umsetzen kann, trägt bereits einen wesentlichen Teil zur Unterstützung und heilsamen Ent-wicklung des Kindes bei.