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Die Ordnung der Nahrungsdinge

Wie wir die Welt wahrnehmen, hängt wesentlich von den Kategorien ab, die wir ‚gelernt‘ haben: da gibt es z.B. Naturdinge, Technikdinge, Baumdinge, Tierdinge, Nahrungsdinge… Diese Ordnungen helfen uns, die Welt zu strukturieren. Sie sind mitunter nützlich, aber nicht wahrer als andere Ordnungen. Allerdings fällt es uns schwerer, in anderen Ordnungen zu denken, wenn diese Kategorien und Ordnungen einmal ‚Besitz‘ von uns ergriffen haben.


Das Konstrukt der Kalorie verändert ganz wesentlich die mentalen Repräsentationen der Nahrungsdinge in unseren Köpfen und damit auch wie wir sie wahrnehmen und erleben.


Eine Geschichte, ich nenne sie: ‚Drei Mädchen und die Ordnung der Nahrungsdinge‘ soll das verdeutlichen. Die Geschichte spielt in den 1990er Jahren und handelt von drei Mädchen dir zunächst nur eine grobe Ordnung der Nahrungsdinge kennen:

sie wissen schon, dass Gemüse und Obst gesund sind und das man zu Süßigkeiten sagt, dass sie ungesund seien und dass das vielleicht irgendwie damit zusammenhängt, dass es sie daher etwas seltener gibt als Gemüse. Aber was das alles 'wirklich' bedeutet, wissen sie nicht. Neben diesen zwei Kategorien, gibt es dann noch etliche viele andere Nahrungsdinge, die sich den beiden Kategorien entziehen: Kartoffelbrei mit Buttergemüse und Fischstäbchen, Nudeln mit Tomatensoße, Reis mit Fisch, Auflauf, Milchreis, Abendbrot, Butter, Käse, Wurst, Erdbeerquark, Frühstückflocken mit Milch, Toastbrot mit Honig, …


In Sachen ‚Kalorienlehre‘ sind alle drei Mädchen also gleich unwissend. Durch ihre individuellen Erfahrungen mit dem Leben und den Lebensmitteln haben sie sich aber bereits ein subjektives-persönliches Wissen angeeignet.


Eines der Mädchen, nennen wir sie Anna, weiß zum Beispiel sehr gut, was ihr schmeckt und was nicht und wann sie hungrig ist und wann sie satt ist. Und außerdem weint sie, wenn sie traurig ist oder lacht, wenn sie sich freut; sie schläft, wenn sie müde ist und läuft, springt und hüpft und erkundet die Welt, wenn ihr danach ist.


Ihre Freundinnen, Lisa und Susi, nehmen das mit dem satt und hungrig sein, nicht so genau wahr und haben manchmal niemanden, der sie in den Arm nimmt, wenn sie traurig sind oder sie haben irgendwie gespürt, dass es besser ist, das mit sich allein auszumachen. Susi hat herausgefunden, dass ihr Essen dabei hilft, nicht mehr so traurig zu sein. Solang sie isst, ist die Welt, die eigentlich nicht so ok für sie ist, auszuhalten bzw. ausblendbar. Müsste Sie eine Rangliste der Nahrungsdinge aufstellen, kämen Süßigkeiten auf Platz eins, weil die ihr besonders gut helfen. Ganz anderes bei Lisa. Lisa hat herausgefunden, dass es ihr hilft, wenig zu essen und dass sie sich dann besonders gut fühlt.


Nun kommen alle drei Mädchen in die Pubertät und sind grade dabei sich eine Bravo zu kaufen, fühlen sich aber auch schon magisch von den Frauenzeitschriften im Regal angezogen. Auf einer klebt eine Gratisbeigabe: Ein Kalorienheftchen für Unterwegs. Der Kleber hält nicht lange und das Heftchen landet in der Bravo (Gratisbeigabe oder?! ;), kommt unbemerkt an der Kassiererin vorbei und landet ein wenig später in den den Köpfen der Mädchen.





Im Heftchen selbst sind die Nahrungsdinge nach den bekannten Grundkategorien geordnet: Obst, Gemüse, Süßigkeiten. Daneben weitere wie Getreide- und Milchprodukte. Das ist vertrautes Wissen für die Mädchen, sie kennen sich aus. Wissenschaftler werden dazu später sagen: 'das neue Wissen war anschlussfähig'.

Das Neue an dem neuen Wissen ist nicht nur die Zuweisung von Lebensmitteln zu je einem nominalen Kcal-Wert, sondern auch die Sortierung innerhalb dieser Kategorien, gereiht nach Kalorien- und Fettanzahl.


Durch das Kalorien-Heftchen lernen die Mädchen also plötzlich eine ganz neue, viel feinere Ordnung der Dinge kennen: Süßigkeiten sind nicht einfach nur Süßigkeiten, die zuvor noch ihre Bedeutung sowohl als Energieträger als auch als süßes Geschmackserleben und zB Seelentröster hatten. Subjektives wurde rausgekürzt, zugunsten einer Differenzierung allein anhand ihres objektiven Brennwerts. Auch Obst ist nicht mehr nur Obst. Plötzlich gibt es eine klare Rangordnung der Nahrungsdinge, wobei die Dinge mit wenig kcal und wenig Fett ganz oben stehen – wie die Gewinner. Die letzten Plätze werden von Nahrungsdingen eingenommen, die die meisten Kcal haben. Aber wen interessieren schon die letzten Plätze?!


Allenfalls zur Abschreckung! SO VIELE KALORIEN?! Im Vergleich zu Null sind 100 tatsächlich viel. Wenn außerdem das Maximum der Skala bei 400 liegt, der Median bei 150 (also die meisten der im Heftchen angeführten Lebensmittel eher im niedrige kcal-Bereich liegen), gibt frau das doch indirekt sehr deutlich zu verstehen, welche Nahrungsmittel zu bevorzugen sind. Eine Ordnung der Nahrungsdinge in alphabetischer Reihenfolge, nach Farbe oder nach Geschmacksrichtung hätte zweifellos eine ganz andere moralische Wertung vermittelt.

Was macht diese Ordnung der Nahrungsdinge entlang der Achse 'Kalorie' nun mit unseren Mädchen?


Susi wird es auf einmal ganz mulmig zumute: offenbar stimmt ihre persönliche Ordnung der Nahrungsdinge (Süßigkeiten auf Platz 1) gar nicht mit der als objektiv präsentierten Ordnung der Nahrungsdinge, so wie sie für erwachsene Frauen bestimmt ist, überein. Neuerdings wird sie auch immer mal wieder gehänselt und hat schon öfter zu hören bekommen, dass sie mal abnehmen soll. Bis jetzt wusste sie nicht so recht, wie sie das machen soll, aber offenbar kann sie dieses Problem mithilfe dieses kcal-Wissens in Zukunft lösen. Ihr Problem ist offenbar allein ein Rechenproblem! Susi wird in Zukunft sehr lange auf der Suche nach der richtigen Formel sein …


Anna ist fasziniert von der Liste und fragt sich: „Wenn es Süßigkeiten ohne Fett gibt: Warum sollte frau dann noch Kekse essen?! Warum sollte sie überhaupt noch Lebensmittel unten auf der Liste essen? Sie wäre ja schön blöd.“ Und das ist frau in der Pubertät, wenn es darum geht eine Frau zu werden, ja schon nicht mehr. Anna schon gar nicht! Sie hat großen Spaß an Mathe und daher findet sie es prima, dass sie jetzt ihre Fähigkeiten mal auf einem so ‚erwachsenen Gebiet‘ anwenden kann.


Was wohl aus Anna werden wird? Wird sie immer gewagtere Rechenkünste probieren? Oder wird sie eher Ernährungspläne für andere schreiben? Oder wird sie später Sätze formulieren, wie: "Eigentlich ist es doch ganz einfach: iss einfach, wenn du hungrig bist und hör auf, wenn du satt bist!"


Auch Lisa ist in ihren Gedanken und Überlegungen versunken. Seit Kurzem mag sie das Gefühl, ihre Knochen abzutasten irgendwie sehr. Fett mag sie nicht an sich. Also ist es doch nur folgerichtig auch die Nahrungsdinge, die viel Fett haben, nun wirklich gar nicht mehr zu essen… auch sie prägt sich diese Liste sehr gut und tief ein. Lisa ist vielleicht diejenige, die noch den größten Abstand zur Liste wahrt. Sie zählt auch ein bisschen – und natürlich muss das Tagesergebnis stimmen!!! – aber eigentlich geht es ihr noch um etwas anderes.


Zu ihrer großen Verwunderung bekommt sie dann ausgerechnet in einer Klinik, in die sie später kommt, genau jene Kalorienlehre präsentiert, die andere für ihre Krankheit mit- verantwortlich machen.





Statt 0+0+300+0+150+0+0+800 soll sie dort lediglich eine andere und - allgemeingültig richtige - Formel lernen, die ungefähr so aussieht: 400 (Frühstück) + 200 (Snack1) + 600 (Mittag) + 200 (Snack 2) + 500 (Abend) + 200 (Night-Snack). Doch irgendwie geht diese Formel für sie so schwer auf… Sie ahnt, dass ihr Problem, wie auch das von Susi, mehr ist, als allein ein Rechenproblem. Aber die Expertin in der Klinik will nicht mit ihr darüber diskutieren. Sie macht ohnehin einen sehr genervten Eindruck: da ist sie schon im Besitz der Superformel, nur dran halten will sich offenbar niemand… Anstrengende Mädchen!


Als Lisa aus der Klinik entlassen wird, fühlt sie sich in Gyms besonders wohl. Dort begegnet ihr dann auch ein ziemlich süßer Fitnesstrainer, der ihr erst mal klar macht, dass das Wissen der Klinik-Lady in DGE-Birkenstock echt old school ist. Die Superformel geht ganz anders… Protein und so, verstehst?! Und so wird auch Lisa allmählich anfangen, ihre Ahnung, dass ihr Problem kein Rechenproblem ist, vergessen und sich, wie auch Susi, auch auf die Suche nach der perfekten Formel machen...


Wahnsinn, oder?!


Durch die Rangordnung der Nahrungsdinge entlang der Achse Kalorie wird also nicht nur eine ‚einfache’ Taxonomie mit Objektivitäts- und Allgemeingültigkeitsanspruch vorgenommen, sondern auch noch nebenbei eine allgemeingültige moralische Wertung vermittelt. Die Gebrauchsanweisung vorne im Heftchen – wie viel Gramm Fett (wir befinden uns schließlich in den 1990ern) die Frau zum Abnehmen maximal essen soll – hätte es vermutlich allein aufgrund dieser Ordnung, die ganz intuitiv zu verstehen ist (Nahrungsmittel mit wenig kcal oben = gut; Nahrungsmittel mit viel kcal unten = schlecht), schon gar nicht mehr gebraucht.


Die drei Mädchen aus unserer Geschichte haben gelernt ihr subjektives Erfahrungswissen dem Wissen, welches sich als objektives präsentiert, unterzuordnen. Die entschiedene Frage ist nicht mehr: schmeckt es mir, bin ich satt, macht es mich glücklich, hilft es mir grade diese verzweifelte Familienkrise durchzustehen? Sondern einzig und allein: WIE VIELE KALORIEN HAT ES? Sie lernen damit: subjektive Erleben zählt nicht – weil es (wie wir ja aus den letzten Posts der Serie über Diätkultur wissen), nicht zählbar, nicht messbar ist.


Doch damit nicht genug: warum bekommen die Mädchen das Wissen um die Kalorie, die ihre Wurzel doch vor allem in medizinischen Diskursen hat, ausgerechnet durch eine Frauenzeitschrift - heute wäre es vermutlich das Youtube- oder Instasternchen – vermittelt? Wie konnte ein einzelnes Konstrukt - jenes der Kalorie - so wirkmächtig werden?


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Disclaimer (in der IG-caption): Die Geschichte ist fiktiv, von mir ausgedacht. Natürlich gibt es auch zahlreiche Menschen, die ganz unbeschadet aus so einem Kalorienheftchen-Kontakt hervorgehen. Das ist schön für sie. Meine Geschichte handelt von jenen drei Mädchen, die das – aus welchen Gründen auch immer – nicht tun. Ferner, werden hier keine idealtypischen Verläufe von Essstörungen oder der Entwicklung von gestörten Essverhalten beschrieben (das auch später als in der Kindheit/Pubertät einsetzen kann) und es gibt auch Kliniken, die das mit der ‚Ernährungslehre‘ hoffentlich heute anderes machen. Ebenfalls verursacht so ein Heftchen-Kontakt natürlich keine Essstörung (so reduktionistisch denkt heute wohl keiner mehr - dennoch lieber ein Hinweis..!) – und ebenso wenig, dass sollte nun auch deutlich geworden sein, sind nur ‚verhungerte Gehirne‘ an der Obsession an Kalorien Schuld, wie das regelmäßig mit Verweis auf die Minnesota Starvation Study (die ich bereits an anderer Stelle kritisiert habe) erzählt wird. Die Kalorie und das in ihrem Zusammenhang produzierte Wissen strahlt eine unglaublich große Macht aus – mehr dazu im nächsten Post.



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