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Bourdieu, adapted - Die Essstörung als Handlungssubjekt

„Ich könnte Ihnen Kilometer von Literatur nennen, in denen das Wort ‚Essstörung‘ als Handlungssubjekt, als Subjekt von Aussagesätzen vorkommt. Dies ist eine ganz gefährliche Fiktion, die uns daran hindert, Essstörungen zu denken. Als Präambel wollte ich Ihnen also sagen: Achtung, alle Sätze, die die Essstörung als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, dass sie falsch wären.“

Bourdieu, adapted


Die Essstörung - als handelndes Subjekt - gibt es nicht. Die Essstörung macht, tut und sagt nichts.


Mit dem Konstrukt der Essstörung werden verschiedene Verhaltens- und Erlebensweisen, Symptome, gruppiert und zu einem Syndrom zusammengefasst (wer diese ‚Ordnung der Dinge‘ vornimmt und warum, ist eine Frage, die es sich ebenfalls zu stellen lohnt, hier jedoch den Rahmen sprengt).


In diesem Sinne – als handelndes Subjekt – ist die Essstörung, die Magersucht, die Bulimie, die Binge Eating-Störung also eine Fiktion.

Dennoch kann es zu theologischen – pardon: therapeutischen Zwecken nützlich sein, die Essstörung zu externalisieren, beispielsweise wenn frau in der Therapie dazu aufgefordert wird, die Essstörung zu malen oder einen Brief an die Essstörung zu schreiben, sie sich also als Subjekt vorzustellen. Auf diese Weise können für das Leben hilfreiche Erkenntnisse gewonnen und somit 'wahre Sätze' formuliert werden.


Problematisch wird es erst, wenn die Essstörung komplett und dauerhaft als Subjekt gedacht und also als ich-fremd abgespalten wird (‚hier die Essstörung – dort ich‘) oder sich ganz mit ihr, und verbundenen Handlungsskripten identifiziert wird (‚ich als die Essgestörte/Magersüchtige/Bulimikerin‘).


Daher die Präambel: Achtung, alle Sätze die von der Essstörung als handelndem Subjekt sprechen, sind vielleicht im theologischen Sinn hilfreich, können aber auch von einem besseren Verstehensprozess abhalten.


Im Original lautet das Zitat von Pierre Bourdieu (1930 – 2002), dem französischen Soziologen und Meisterdenker übrigens wie folgt:


„Ich könnte Ihnen Kilometer von Literatur nennen, in denen das Wort ‚Staat‘ als Handlungssubjekt, als Subjekt von Aussagesätzen vorkommt. Dies ist eine ganz gefährliche Fiktion, die uns daran hindert, den Staat zu denken. Als Präambel wollte ich Ihnen also sagen: Achtung, alle Sätze, die den Staat als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, dass sie falsch wären.“


Für unsere Zwecke habe ich mir erlaubt, das Wörtchen ‚Staat‘ mit ‚Essstörung‘ auszutauschen. Excuse-moi Pierre, falls das nicht in deinem Sinne war. Als Freunde im Geiste, bin ich mir aber relativ sicher, dass du verstehst...


Bien amicalement

Senta



Literatur

Pierre Bourdieu: „Über den Staat – Vorlesungen am Collège de France 1989-1992“. S. 31. Übers. Horst Brühmann, Petra Willim, Suhrkamp, Berlin 2014.

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