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Diätkultur & Essstörungen



Schönheitswahn, Diätkultur, Social Media – wenn ein Schuldiger für Essstörungen gesucht wird, sind diese drei Akteure meist mit von der Partie. Während Betroffene selbst immer wieder hervorheben, dass die Heidis und Pamelas allenfalls als Einstiegsmotivation - Thin- oder Fitspirations - dienten und andere betonen, dass der Schönheitskult aber auch wirklich rein gar nichts mit ihrer Essstörung zu tun hat, ist doch zu beobachten, dass es heute mehr Menschen mit Essstörungen gibt als früher.


Selbst Hilde Bruch, DIE Essstörungsforscherin, macht in ihrem Buch „Essstörungen – Zur Psychologie und Therapie von Übergewicht und Magersucht“ 1991 darauf aufmerksam, dass bereits die Römer Fettsucht genauso wie die Griechen verabscheut haben (ebd., S.33). Die römischen Damen hätten „genauso zu leiden, wenn nicht noch mehr, wie das bei jungen Mädchen heute der Fall ist. Sie wurden buchstäblich ausgehungert, damit sie dünn wie Bohnenstangen wurden“ (ebd).


Um den Anstieg der Prävalenz von Essstörungen zu verstehen, erachte ich auch daher die Schön- und Schlankheitsideale, auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, viel weniger relevant als die Tools, Techniken und das Wissen, welches die modernen Medizin- und Mediendiskurse her- und bereitstellen sowie die, auf diesem Wissen basierende, produzierten Produkte der Diätindustrien. Schönheitsideale mögen eines dieser Produkte sein oder dienen zumindest dem Marketing der eigentlichen Produkte: den Kalorien- und Proteinoptimierten Nahrungsdingen sowie den zahlreichen Apps und Trackern. Wobei letztere wohl auch vielfach v.a. dem Marketing dienen, insofern sie uns verstehen lassen, da es da noch viel 'Raum zur Potentialentfaltung nach oben' gibt.


Dieses Gemisch bereitet das kulturelle Klima, indem so manche Essstörung erst richtig aufblühen kann.



Wissen – Macht – Subjekt

Was den Römern und Griechen fehlte, waren keine Schönheitsideale, sondern das Wissen um die Kalorienlehre, der bio-medizinische Blick auf und in den Körper (noch war keine Leiche aufgeschnitten) und natürlich jene Art von Subjektivierungsverhältnis, welches überhaupt erst ermöglicht, den Blick auf den einzelnen Menschen zu richten.


Die Römer kannten wohl allenfalls das Fasten und Hungern (verfügten also über das Wissen über einen basalen Zusammenhang zwischen Nahrung und Körperumfang) und – als Erfinder der Purgatorien (in Festsälen aufgestellt Behälter für das Übergeben) – die Technik des Erbrechens. Letztere wurde jedoch nicht im heutigen Sinne von der Einzelnen fürs Schlankwerden und -bleiben oder im Rahmen einer Bulimie (die es damals auch noch nicht gab) eingesetzt, sondern diente den - in die Gemeinschaft eingebundenen - Fress-Orgien, zu welchen aber auch nur die römische Oberschicht Zugang hatte. Heute wurde das demokratisiert, wenngleich man zum Alkohol als primären Purging-Stoff übergegangen ist. Als Purgatorium fungiert dabei in München im Oktober regelmäßig die Wiese hinter den Festzelten. Ein Prosit der Gemütlichkeit!


Aspartam versüßt das Leben


Old school Hungern, ohne zu ahnen, dass die Gurke weniger kcal hat als die Torte, ist zweifellos etwas anderes als mit diesem Wissen zu Hungern. Im Gegensatz zur Römerin kann sich frau heute mithilfe dieses Wissens das Hungern ungleich ‚angenehmer‘ gestalten. Die heimische Küche wird zum bio-chemischen Labor, der Körper zum Verbrennungsmotor. Diätgetränke füllen den Magen und koffinieren die müden Glieder. Die Auswahl zwischen 0,1-Jogurt mit Kirsch-, Schoko- und Zimtgeschmack machen das Nicht-Essen abwechslungsreicher. Der Kreativität, neue kcal-arme Rezepte zu erfinden sind keine Grenzen gesetzt, wenngleich frau sich dann doch meist - phasenweise - auf ein bestimmtes Repertoire begrenzt und die Rezepte lieber für die Zeit sammelt, in der sie wieder essen darf. Warten auf Godot 2.0, female edition.


Kcal-Tracker, Diätprodukte, Schritte-Zähler – selbst die Körper- und Küchenwaage – sind alles mehr oder weniger moderne Erfindungen, die - wie sich im Folgenden zeigen wird - auch nicht einfach ‚vom Himmel gefallen sind‘ - wiewohl die Götter in Weiß sie gerne nutzen, um BMIs und Gesundheitsverhalten zu bestimmen. Sind es also doch genuin himmlische Techniken - die allein von den teuflisch- dionysischen Hungerkünstlerinnen, in einem ungeheuren Willen zur Macht - zur Steigerung ihrer Hungerlust - missbraucht werden?


Jedenfalls werden die himmlisch-höllischen Techniken heute von fast allen Frauen mit Essstörung genutzt und verleihen der ganzen Causa Selbstaushungerung nochmal eine besondere Dynamik. Statt nur grob die Nahrungs-Quantität zu reduzieren, kann sie heute jede einzelne Kalorie reduzieren, jeden einzelnen Schritt messen, jedes einzelne geschmolzene Gramm genau beobachten. Sie kann mit den verschiedenen Parametern spielen und bis ins letzte Detail verfeinerte Zwangskonstrukte errichten.


Und da denkt frau, sie wäre in ihrer Nahrungsverweigerung von ihrer Umgebung unabhängig und übersieht, wie sehr sie doch auf die von der Kultur bereit gestellten Techniken (und wenn es nur der geliebte 0,1er Quark ist) angewiesen ist; wiewohl ich auch die Künstlerinnen nicht vergessen will, die beteuern auch langfristig ganz ohne Waage und Magerquark hungern zu können und zu wollen.


Meist sind wir doch ‚Gefangene‘ der Kultur (zumindest der Sprache) – auch und grade in der Rebellion gegen sie. Emanzipation und Freisetzung fängt gemeinhin damit an, dass zumindest zu bemerken.


Haben uns die Zahlen heute vielleicht anders im Griff als die Sprache, die doch – mit Wittgenstein - eher ein Spiel mit uns treibt. Welche Spiele spielen wir mit Zahlen? Platonische? Und welche Spiele spielen sie mit uns? Wenn die Sprache spricht, schweigt dann die Mathematik? Totenstill? Oder lacht sie am Ende gar doch noch ein klirrend-klares Lachen? Ein ewiges Lachen. Ohne Wiederkehr?


Malen nach Zahlen


Natürlich machen nicht die Farben und Leinwände den Maler zum Maler. Gleichwohl ist er auf sie angewiesen, wenn er ein Bild malen möchte. Die Hungerkunst ist etwas anders gelagert, insofern sie prinzipiell auch ohne Farben auskommt. Dennoch ermöglichen die neuen Techniken (die kcal-App, der 0,1-Joghurt, das Proteinpulver, die dietcoke etc.) vielen Aspirantinnen den leichteren Einstieg und haben sicher auch die Hungerkunst selbst verändert und ausdifferenziert. Neben den Klassikern werden nun auch Bilder in grellen Farben ausgestellt. Bunter wird es dadurch nicht. Manchmal sind die Hungerkünstlerinnen der alten Garde auch kaum noch von den Diätkünstlerinnen zu unterscheiden. Aber vielleicht ist das auch die falsche Frage. Habe ich mich gar in der Kunstgattung geirrt: Ist die Hungerkunst – in einem Butlerschen Sinn - nicht Ausdrucks-, sondern vielmehr Performanz-Kunst?


Post-moderne Hungerkunst


Jedenfalls lernen wir, unabhängig von der Kunstform, durch die Diättechniken, Tracker und Apps, die mit dem Handy ins Leben einziehen, uns selbst als messbare und quantifizierbare Objekte wahrzunehmen. Fernab aller Romantik ist z.B. das handschriftlich geführte Ernährungstagebuch, in welchem G-u-r-k-e-n-s-a-l-a-t aufgeschrieben wird, Ausdruck einer anderen Beziehung, als das Antippen von ‚Gurkensalat (hausgemacht)‘ in der App, was ohnehin schon ein Problem darstellt, insofern kein eindeutiger Kaloriengehalt ausfindig gemacht werden kann. Da ist der Joghurt mit eindeutigem Label aus dem Supermarkt verlässlicher. Hausgemacht wird vermieden. Nicht aufgrund der Verwertbarkeit für den Organismus – die Trackbarkeit für die App ist entscheidend. Der Name des Joghurts ist nebensächlich, die Bedeutung des Begriffs verweist nur noch auf einen kcal-Gehalt, eine Zahl, einen Brennwert. Eindeutige Bezüge. Was würde Lacan dazu sagen?


Durch den Gebrauch der quantifizierenden Techniken verändert sich die Subjektivität, das Verhältnis zu bzw. die Vorstellung von sich selbst – ohne dass es auf deren Inhalt ankäme. Ob wir Kalorien, Makronährstoffe, Schritte, Meditationsminuten oder Schlafstunden zählen, macht keinen Unterschied. Wesentlich ist, dass wir zählen, messen, optimieren und gelernt haben, uns als vermessbare Wesen wahrzunehmen – und uns als diese konstituieren.


Noch ist dies allerdings mit gewissen Reibungsverlusten verbunden, insofern wir (noch) daran scheitern, uns der Vermessungslogik völlig anzupassen. Das zeigt sich in all jenen Fällen, in welchen wir mit Widerstand auf sie reagieren, z.B. indem wir uns nicht an das festgesetzte kcal-Budget halten.

Zur modernen Selbststeuerung brauchen wir also noch viel mehr Wissen über das zu steuernde Objekt. So weiß man über das Objekt Frau nun, dass dieses in der lutealen Phase mehr Wärme abstrahlt, weshalb das erlaubte kcal-Budget in PMS-Zeiten vorausschauend und präventiv etwas höher angesetzt wird. Lineare Pläne für Jedermann sind von Gestern, die Entwicklung eines eigenes Gespürs von vorgestern. Heute wird adaptiv, spezifisch und individuell geplant. Und das möglichst Neurospezialisiert und Gastroempathisch.


Ein Fehler wäre es nun allerdings die Anorexie als perfekte Beherrschung oder Anpassung an die Techniken bzw. als ihren logischen Ausgang zu betrachten. Viel zu oft wird sie fälschlicherweise als ‚außer Kontrolle geratene Kontrolle‘ gedeutet. Mitunter gibt es Formen, für die das zutreffen mag, bei anderen Formen nicht. Die meisten Magersüchtigen begnügen sich auch mit nur ein oder zwei Maßeinheiten (Kalorien, Körpergewicht, ggf. noch Schrittzähler). Keep it simple - Das Motto der wirklich großen Künstler.


Das Medium IST die Botschaft


Marshall McLuhan (1911 - 1980), einer der bekanntesten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts, meinte, dass das Medium nicht Übermittler der Botschaft, sondern selbst die Botschaft ist. Er erklärt u.a. den Wechsel vom lesenden, visuellen Sinn auf den (für die auditiv-vermittelte Propaganda) ‚unvorbereiteten‘ Hörsinn durch plötzliche Einführung der Radiotechnik als Kofaktor für die Entstehung des 2. WK. Es liegt daher nahe, dass die Diättechniken - der Wechsel vom Schreiben zum Zählen, von der Schrift zur Zahl - selbst zumindest Teil der Botschaft sind, die im postmodernen Krieg gegen die Körper mitzudenken sind. Was ist die Bedeutung der Zahl? Worauf verweist sie? Von Spielarten der Zahlenmagiker und Synästhetiker abgesehen, verweist die Zahl, anders als die Sprache, auf etwas Eindeutiges? Der Baum kann tausend Bäume meinen, aber die 2 meint nur die 2?


Besonders interessant ist es, wenn frau nach dem Ursprung der Techniken fragt. Und diese v.a. in den medizinischen Diskursen findet. Mithin sind das grade jene Disziplinen, die auch an der Heilung des modernen Subjekts beteiligt sein wollen, dabei aber auch Allianzen mit kapitalistischen Diskursen eingehen: der messbare Körper lässt sich nicht nur medizinisch und staatlich gut überwachen und steuern (sofern man hier eine Trennung machen will), sondern auch für andere Zwecke optimieren – fragt sich nur: in welchem Interesse?!


Die Kalorie als Mikrodispositiv


Wenn wir über Diätkultur sprechen, dürfen wir den Hauptakteur, mit dem wir gelernt haben, die Nahrungsdinge zu messen und zu ordnen nicht vergessen: die Kalorie.


Die Maßeinheit der Kalorie ist DAS Steuerungsinstrument – Foucauldianer führen an dieser Stelle gern Begriffe wie Governementalität, Selbsttechnologie oder Biopolitik ein – und so wundert es uns nicht, dass sie just in dem Zeitalter der Industrialisierung ‘erfunden‘ wurde.


Dr. Nina Mackert (Universität Erfurt) schreibt hierzu (in: Die Karriere der Kalorie. Eine Geschichte des Essens und Messens in den USA der 1860er bis 1930er Jahre - Ernährung, Gesundheit und soziale Ordnung - LMU München (uni-muenchen.de)):

Um 1900 erlangte die Kalorie zunächst Bedeutung als Einheit, über die erstmals die Ernährungsweisen von Populationen miteinander verglichen und reguliert werden konnten (u. a. in Sanatorien, Gefängnissen und der Armee bzw. in Ernährungsstudien unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen). Im frühen 20. Jahrhundert fand das Kalorienzählen unter anderem über Diätratgeber den Weg in die Alltagspraktiken von Individuen und forderte diese auf, ihre Nahrungsaufnahme zu kontrollieren und auf ihre Gewicht zu achten. Flankiert von einer zunehmenden Problematisierung von „Übergewicht“ schien das Kalorienzählen über die Fähigkeit von Individuen Auskunft zu geben, sich selbst angemessen zu führen.

Klinik, Gefängnis und das Militär als Umgebung der Kalorie, zur besseren Vergleichbarkeit und Regulation von Bevölkerungsgruppen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Foucault heute nicht mehr über Sex, sondern über Ernährungspraktiken nachdenken würde. Hier wie dort geht es um Begehren, Lust, Wahnsinn, Gesellschaft, Überwachen und Strafen. Dass sich die Maßeinheit der Kalorie - das Konstrukt der Kalorie - durchsetzen konnte, hat also ganz wesentlich damit zu tun, dass sich die Kalorie sich gut mit anderen Interessen und Diskursen verbunden hat.


Die Wirkmächtigkeit des Mikrodispositiv der Kalorie ist bei Weitem noch nicht hinreichend bewusst. Kaum eine zweifelt daran, dass die Gurke tatsächlich 19kcal/100g HAT, wiewohl die Kalorie ein menschliches Konstrukt ist, dass der Gurke auf Grund ihrer Brenneigenschaften in (künstlichen) Experimentalsituationen zugewiesen wurde.


Mitunter bietet es sich an, über die Konstitution der Kategorie Kalorie nachzudenken:


Eating trouble - Das Unbehagen in der Esskultur.

Performt die Gurke ihren Kaloriengehalt oder drückt sie ihn aus.


Ebenso wie Judith Butler in Gender trouble bzw. Das Unbehagen der Geschlechter gezeigt hat, dass Geschlecht eher performt und konstituiert wird, denn Ausdruck einer wesenhaften Essenz ist, ist die Art und Weise, wie wir über Essen sprechen und es erleben, keinesfalls in Stein gemeißelt. Und so bietet es sich an, dass reduktionistische Konzept der Kalorie bzw. die Perspektive auf Nahrungsmittel als physiologische, natürliche, biologische Brennstoffe zu verschieben.


Die Gurke liefert weniger Treibstoff als die Torte. Auf Eben der Verbrennungsmaschinen ist das nicht zu bestreiten. Wer sich nicht nur als diese betrachtet, dem steht es frei, Nahrung unter einer anderen Perspektive zu betrachten.


Dem einzelnen Menschen liefert die Gurke mitunter kühlende Frische oder Eiseskälte, grüne Farbe auf dem Teller oder giftgrüne Assoziationen, knackig-kräftiges Kauen, wütendes Beißen oder sommerliche Leichtigkeit. Die Torte je nach subjektivem Erleben und situativem Kontext schmelzend-wolllüstige Wohligkeiten, erdrückende Luftnot, fette Umarmungen, wuchtige Fülle, bleierne Schwere, schamvolle Erinnerungen oder süße Träume.


Doch wo in der App ist das gleich einzutragen?! Der verengte Blick auf die Kalorie, reduziert nicht nur die Nahrungsmittel auf EINEN Faktor (den Brennwert), sondern reduziert auch den Menschen auf eine - wie es Houellebecq das formuliert hat: „in Zähnen endender Speiseröhre.“


Die Verbrennungsmaschine, die die Gurke verbrennt - der Roboter - KANN tatsächlich anderen Qualitäten nicht empfinden. Er kann gar nichts empfinden, keine Beziehungen eingehen, sich nicht mit anderen und der Welt verbinden, keine unterschiedlichen Erfahrungen machen, Wachsen, sich entfalten, ausprobieren - er kann nur verbrennen.

Dem Menschen steht dies frei.


Eine zweifellos problematische Freiheit! Menschen sind sterblich, ins Dasein hineingeworfen, in eine mitunter chaotische Welt. Sich zum effizienten Roboter zu optimieren, scheint heute ein für immer mehr Menschen gangbarer Lösungsweg zu sein. Warum also nicht auch in diese Richtung denken? Der Humanismus konnte sein Versprechen ohnehin nicht halten. Die Algorithmen sind auf dem Vormarsch. Warum nicht mitmarschieren? Eben darum.


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