Das Wesen ohne Ursprung
Leben, ohne Michel Foucault gelesen zu haben?
Möglich. Aber ...
Was für ein Lesegenuss!
Lieblingszitate aus dem 9. Kapitel "Der Mensch und sein Ursprung" von
Michel Foucault (2017 [1971]). Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
V. Das Zurückweichen und die Wiederkehr des Ursprungs
S. 398
In der Tat entdeckt sich der Mensch nur als mit einer bereits geschaffenen Geschichtlichkeit verbunden: er ist niemals Zeitgenosse jenes Ursprungs, der durch die Zeit der Dinge hindurch sich abzeichnet und sich verheimlicht. Wenn er sich als Lebewesen zu definieren versucht, entdeckt er seinen eigenen Anfang nur auf dem Hintergrund eines Lebens, das selbst lange vor ihm begonnen hat. (…). Wenn er seine Essenz als die eines sprechenden Subjekts zu definieren versucht, diesseits jeder effektiv konstruierten Sprache, findet er stets nur die Möglichkeit der bereits entfalteten Sprache und nicht das Gestammel, das erste Wort, von dem aus alle Sprachen und Sprache selbst möglich geworden sind.
Stets auf dem Hintergrund eines bereits Begonnenen kann der Mensch das denken, was für ihn als Ursprung gilt. Dieser Ursprung ist also für ihn absolut nicht der Beginn, eine Art erster Morgen der Geschichte, seit dem sich alle späteren Errungenschaften aufgehäuft hätten. Der Ursprung liegt eher in der Weite (…). Er ist in jener Falte zu suchen, in der der Mensch in aller Naivität eine seit Jahrtausenden bearbeitete Welt bearbeitet, in der Frische seiner einmaligen jungen und prekären Existenz ein Leben lebt, das bis in die ersten organischen Formationen zurückgeht; in der er Wörter noch nie gesprochener Sätze … zusammensetzt, die älter sind als jede Erinnerung.
S. 399
In diesem Sinne ist zweifellos die Ebene des Ursprünglichen für den Menschen das, was ihn am nächsten ist: jene Oberfläche, die er unschuldig, stets zum ersten Mal beschreitet und auf der seine kaum geöffneten Augen ebenso junge Gestalten wie sein Blick entdeckt, - Gestalten, die nicht älter sind als er, aber aus einem entgegengesetzten Grund. Nicht, weil sie stets ebenso jung sind, sondern weil sie einer Zeit angehören, die nicht das gleiche Maß und die gleichen Grundlagen haben wie er.
Aber diese dünne Oberfläche des Ursprünglichen, die unsere ganze Existenz bemißt und ihr nie fehlt (…), ist nicht das Unmittelbare einer Entstehung. Sie ist völlig bevölkert mit jenen komplexen Vermittlungen, die in ihrer eigenen Geschichte die Arbeit, das Leben und die Sprache gebildet und niedergelegt haben. Infolgedessen sind es in dieser einfachen Berührung, vom ersten mit der Hand bearbeiteten Gegenstand an, seit der Manifestation des einfachsten Bedürfnisses, beim Dahinhauchen des neutralsten Wortes stets die Vermittlungen einer ihn fast unendlich beherrschenden Zeit, die der Mensch, ohne es zu wissen, wiederbelebt.
Ohne es zu wissen, aber es muß doch auf eine bestimmte Art gewußt werden, weil dadurch die Menschen in Kommunikation treten und sich in dem bereits geknüpften Raster des Verstehens befinden. Dennoch ist dieses Wissen begrenzt diagonal und partiell, weil es von allen Seiten mit einem immensen Gebiet an Schatten umgeben ist…
S. 399
Das Ursprüngliche, …, ist also durchaus verschieden von jener idealen Genese, die das klassische Zeitalter zu rekonstruieren versucht hatte. Aber es ist auch verschieden (obwohl es mit ihm gemäß einer fundamentalen Korrelation verbunden ist) vom Ursprung, der sich in einer Art retrospektiven Jenseits durch die Historizität der Wesen hindurch abzeichnet.
Weit davon entfernt, zu einem realen oder virtuellen Gipfel der Identität zurückzuführen oder auch nur darauf hinzuzielen, weit entfernt davon, den Moment des Gleichen anzuzeigen, indem die Dispersion des Anderen noch nicht am Werke war, ist das Ursprüngliche im Menschen das, was von Anfang an ihn nach etwas anderem gliedert als ihm selbst. Es ist das, was in seiner Erfahrung Inhalte und Formen einführt, die älter als er sind und die er nicht beherrscht. Es ist das, was ihn mit multiplen, verkreuzten, oft aufeinander irreduziblen Zeitfolgen verbindet, ihn durch die Zeit verstreut und inmitten der Dauer der Dinge sternförmig ausstrahlen lässt.
S.400
… daß der Mensch im Gegensatz zu diesen Dingen, deren glitzernde Entstehung in ihrer Mächtigkeit die Zeit bemerken läßt, das Wesen ohne Ursprung ist, derjenige, „der keine Heimat und kein Datum hat“, derjenige, dessen Entstehen nie zugänglich ist, weil es nie „statt“gefunden hat.
S.412
Durch eine philologische Kritik, durch eine bestimmte Form des Biologismus hat Nietzsche den Punkt wiedergefunden, an dem Mensch und Gott sich gehören, an dem der Tod des zweiten synonym mit dem Verschwinden des ersten ist und wo die Verheißung des Übermenschen zunächst und vor allem das Bevorstehen des Todes des Menschen bedeutet. Worin Nietzsche also, … die Schwellemarkiert, von der aus die zeitgenössische Philosophie erneut zu denken beginnen kann. …
Wenn die Entdeckung der Wiederkehr das Ende der Philosophie ist, ist das Ende des Menschen dagegen die Wiederkehr des Anfangs der Philosophie. In unserer Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken. …
Allen die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder Befreiung sprechen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren, die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen … linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen - das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen.