Buchrezension: Körperdissoziation von Matthias Hirsch
In „Körperdissoziation“ (2018) aus dem Vandenhoeck & Ruprecht -Verlag der Reihe Psychodynamik kompakt stellt uns Matthias Hirsch in knapp 80 starken Seiten wichtige Aspekte zum Thema Körperdissoziation vor. Er setzt bei der Frage an, „wie sich das erst einmal exotisch anmutende Phänomen erklären lässt, dass der Mensch fähig ist, sich selbst zu beschädigen, wie man sagt, eigentlich den eigenen Körper zu attackieren und ihn zu verletzen?“ (S.11)
Hierzu schildert Hirsch einführend, wie sich überhaupt ein Körperselbst bildet. Die Wahrnehmung und das Erleben von uns und uns als Körperleib hängt vor allem von den frühkindlichen Beziehungserfahrungen ab. Wir kommen nicht als „Dingmensch an sich“ zur Welt, der dann lediglich in die Höhe sprießt, sondern wir konstituieren uns in dynamischen Austausch mit und in Beziehung. Neben der Dynamik und Funktionen des dissoziierten Körperselbst (der Körper als (Not-)Container, als Objekt der Aggression, als Mutterersatz, als Übergangsobjekt und zur Abgrenzung bzw. Schaffung von Körper-Ich-Grenzen) geht Hirsch dann auf die Körperdissoziation in der traumatischen Situation ein, die der Abwehr von überwältigenden Vernichtungsängsten dient.
Besonders aufschlussreich ist die Figur der zweizeitigen Abwehr:
Die (erste) Dissoziation als Abwehrvorgang, die durch Trigger ausgelöst werden kann, ist als Rettungsversuch vor panischer Angst und damit Ich-Auflösung und Desintegration zu werten. Die panische Angst werde abgewehrt durch Dissoziation, mentales Wegtreten, Abschalten, durch „traumatischen Trance“ (S.36).
„Dieser dissoziative Zustand kann nun aber seinerseits so bedrohlich und unaushaltbar werden, dass er wiederrum abgewehrt werden muss. Und das kann durch Abspaltung des Körperselbst geschehen (verwirrenderweise sagt man auch hier Dissoziation des Körperselbst.“ (ebda.)
Durch diese (zweite) Phase der Abwehr, also die Abspaltung des Körperselbst, entsteht ein Gegenüber, das zur Ich-Entlastung verwendet werden kann. Diese Abspaltung ermöglicht ein Körperagieren, das zu großer Erleichterung führen kann. Der Körper könne dann wie ein äußeres Objekt verwendet werden.
Anschließend geht Hirsch auf vier Formen pathologischen Körperagierens ein: Selbstbeschädigung, Essstörungen, Hypochondrie und Dysmorphophobie. Aufgrund der Kürze des Buches fallen die Darstellungen recht knapp aus, jedoch sind sowohl Familiendynamik, Auslösesituationen, z.T. zentrale Konflikte als auch Fallbeispiele enthalten.
Die Darstellung von Essstörungen als ‚Verdauungsstörungen‘ wird m.E. trotz der Kürze gut verstehbar dargestellt. So wird z.B. bei Bulimie die Nahrung am Anfang des bulimischen Anfalls noch als etwas Gutes und Beherrschbares erlebt. Erst wenn sie verschlungen und inkorporiert ist, beginnt sie ein 'böses Eigenleben' zu entfalten bzw. wird als etwas Bedrohliches erlebt, weshalb sie dann erbrochen werden muss. Diesem Wechsel von Idealisierung zu Entwertung ist global zuzustimmen, jedoch möchte ich auch an andere Deutungen erinnern (z.B. das Erbrechen als Schutz vor aggressiver Verdauung und Zersetzung und damit der Versuch des Ungeschehen-machens und Ent-Schuldens, z.B. Ettl), die Hirschs Deutung nicht entgegenstehen, aber sinnvoll ergänzen. Aufgrund der Kürze des Buches ist es aber sehr verständlich, dass nicht alle Aspekte zu den Störungsbildern beleuchtet werden können.
Insgesamt ist das Buch trotz der Fülle an Informationen auf so engen Raum gut verständlich zu lesen. Pathologisches Körperagieren ist vor allem in der heutigen Gesellschaft ein wichtiges Thema, dass leider oft noch irrtümlich unter dem Aspekt des Strebens nach Schönheit (vor allem im Bereich Essstörungen) verstanden wird. Wie trügerisch diese Auffassung ist, wird bei der Lektüre des Buchs deutlich.
Fazit: Empfehlenswert für all jene, die sich mit den Themen Körper, Körperbild, Körperdissoziation und pathologisches Körperagieren befassen.