Abgesang auf die Kalorienlehre
Wie dargestellt, ist die Kalorie ein sehr reduktionistisches Konstrukt, dass den Nahrungsdingen aufgrund ihrer Brenneigenschaften einen numerischen Messwert zuweist. In der Ernährungslehre, die fast ausschließlich eine Kalorienlehre ist, werden die Nahrungsdinge dann entlang der Achse Kalorie geordnet und damit moralisch aufgeladen. Die Gewinner, die kcal-armen Nahrungsdinge, stehen oben, die Verlierer unten.
Die Vorstellung, dass ein so hochkomplexes menschliches Verhalten, wie das Essverhalten, mittels einer Orientierung allein an einem Konstrukt wie jenem der Kalorie reguliert, also gesteuert, werden könne, grenzt an Wahnsinn (weshalb sie auch nur im Wahnsinn umsetzbar ist) und reduziert den Menschen auf eine Verbrennungsmaschine. Die Kalorie und darauf aufbauenden Steuerungstheorien menschliches Ernährungsverhaltens (‚Diäten‘), haben sich im Alltagshandeln nicht praktisch bewährt: 95% aller Diäten scheitern.
Doch während sich andere Theorien im Laufe der Jahrhunderte, die sich ebenfalls als eher blödsinnig herausstellten (Aderlass, Liegekur etc.), NICHT gehalten haben, weisen Diättheorien ein erstaunliches Durchhaltevermögen auf. Warum?
Um die Frage zu beantworten, erscheint mir ein kleiner Ausflug nach Frankreich hilfreich zu sein, genauer gesagt zu Bruno Latour. Der französische Soziologe und Philosoph ist v.a. durch seine Akteur-Netzwerk-Theorie bekannt geworden. In unserem Kontext ist er relevant, weil er – stark vereinfacht – beobachtet hat, dass sich nicht jene Ideen bzw. jenes Wissen durchsetzt, welches ‚wahr‘ ist (diesen Anspruch muss frau in der Moderne ohnehin aufgeben), sondern jene Ideen und Theorien, die besonders gut an bestehende anschlussfähig sind und sich mit anderen mächtigen Interessen und Diskursen verbinden.
Die Geburt des quantified self aus dem Geist der Kalorienlehre
Im Fall der Kalorien- und Diättheorie – die Mutter der quantified Selfs – meine ich mehrere Interessen ausmachen zu können, die mit den Worten Neoliberalismus, Technologisierung und Patriachat schlagwortartig betitelt werden können, wiewohl man bei Gebrauch dieser Begriffe achtsam sein sollte, den sensiblen Leser nicht allzu sehr zu verschrecken. Ebenso ist allein durch Nennung von Begriffen nichts verstanden. Sehen wir uns zunächst die staatlichen Interessen an:
Wie gezeigt, war für die Prominenz der Kalorie das Bestreben, Populationen zu vergleichen (und damit auch diese steuern zu können) um 1900 bedeutsam. Daran hat sich auch im 21. Jhd. nichts geändert: Die Kalorienlehre kann auch heute zur Regulation des Durchschnittskörpers des Durchschnittsbürgers eingesetzt werden.

Im Kalorienheftchen aus den 1990er Jahren ist denn auch auf Seite 1 der schöne Satz zu finden: „Egal, ob sie abnehmen möchten oder Ihr Gewicht halten wollen, auf die Fettmenge kommt es an. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt: Höchstens xy% der täglichen Gesamtkalorien sollten aus Fett kommen. … Im Durschnitt isst jeder Bundesbürger aber etwa 120 Gramm Fett pro Tag. Wenn Sie schnell abnehmen möchten, sollten Sie Ihr Essen so zusammenstellen, dass Sie auf höchstens xy Gramm Fett pro Tag kommen.“
Es gibt also eine Behörde (in Dt.: DGE), die Daten erhebt, Durchschnitte berechnet und darauf aufbauend Regeln für die Einzelne ausspricht und registriert, dass sich die Bundesbürger nicht an die Regeln halten. Würden sich dies tun, könnte darüber eine Normierung (und Disziplinierung) der Bundeskörper erreicht werden. Durchschnitts-Gesunde, vernünftige Bundesbürger verursachen weniger Kosten und liegen auch daher im Staatsinteresse. Um das Individuum, die kreative Entfaltung individueller Potentiale, geht es, dass muss frau wissen, auf Staatsebene NICHT (und das ist auch gut so). Wenn der Staat dennoch besserwisserische Empfehlungen – gar Regeln! - für die allerprivatesten Angelegenheiten ‚seiner‘ BürgerInnen ausspricht, begegne ich dem mit, vorsichtig ausgedrückt: großer Skepsis.
Das Kalorienheftchen der Frauenzeitschrift setzt unmittelbar an diesen staatlich-statistischen Empfehlungen für den Bundesbürgerkörper an und entwirft Regeln für den Frauenkörper: für diesen gelten also nicht die Empfehlungen für den Durchschnitt, sondern andere Regeln, die sich zwar noch auf den Durchschnitt beziehen, aber ihn unterschreiten.
Frau sein bedeutet also: weniger essen als der Durchschnitt.
Kein Wort zu historischen Situiertheit des Kalorienwissens, den Durchführungsvoraussetzungen, Ausführungsbedingungen und langfristigen Folgen, Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Intervention.
Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es.
Im Gegensatz zu traditionellen Kulturen werden die (Disziplinierungs-) Regeln für den Frauenkörper nicht mehr explizit genannt, sondern durch implizite Bezüge hergestellt. Der Titel der Zeitschrift (welcher das Kalorienheftchen beigefügt war) ‚Bild der Frau‘ macht deutlich, dass hier das Bild DER Frau – so wie sie sein soll – auf dem Cover qua Supermodel abgebildet ist. In der Zeitschrift selbst finden sich ebenfalls zahlreiche weitere Bilder DER Frau zu sehen. Niemand muss heute mehr mittels Benimmregeln lernen, wie frau als DIE FRAU zu sein hat. Während die Römerin der Antike vermutlich noch direkte Anweisungen bekam, welche Regeln für sie gelten, bekommen wir das Produktionswissen (wie wir uns zu DER FRAU herstellen sollen) ganz nebenbei vermittelt.
Das Kalorienheftchen als Gratisbeigabe klebte ja gleich mit auf der Zeitschrift. Wie praktisch!
Pflicht zur Antwort
Der Einleitungssatz entstammt dem trügerischen Geist des Neoliberalismus: „Wenn Sie schnell abnehmen möchten, dann…“. Natürlich könnte frau widersprechen, wenn sie denn gelernt hätte, dass Mädchen widersprechen dürfen: Nein, ich will nicht abnehmen! Sie könnte widersprechen – und ist dann schuld, wenn sie es nicht tut und sich – typisch frau - einer solchen Schlankheitskur unterwirft und anschließend mit Jojo-Effekt, Essanfällen oder einer manifesten Essstörung zu kämpfen hat. Doch kann sie wirklich widersprechen?! Will sie denn widersprechen? Oder hat sie längst gelernt das Abnehmen zu wollen? Ganz sicher ist sie heute jedenfalls immer noch in der Pflicht zu antworten, Stellung zu ihrem Körper zu beziehen und muss dann, so oder so, dann mit den langfristigen Folgen leben. Sie hat es ja selbst so gewollt!
BMI*kcal
Die Ordnung der Nahrungsdinge passt ganz ausgezeichnet zur Ordnung der Frauendinge aka Frauenkörper. Während hier die Achse entlang des Brennwerts verläuft, wird sie dort beim Körpergewicht gesetzt. Legt man(n) kcal- und BMI-Ordnungen übereinander, ergibt sich ein unsichtbares Netz, dass sein Gefahrenpotential vor allem aufgrund seiner Unsichtbarkeit entfaltet.
Gegen explizite traditionelle Rollenbilder kann frau sich wehren und Widerstand leisten. Der Neoliberalismus blickt uns indessen unschuldig ins Gesicht und erzählt, dass wir alle Freiheit der Welt haben – was regst du dich also auf..?! - während normative Rollenerwartungen und die Kalorienlehre ganz unbemerkt, vermittelt durch Frauenzeitschriften, ÄrztInnen, ErnährungsexpertInnen und an Algorithmen angepasste ‚authentische‘ Insta- und Youtube-Sternchen, in die Mädchenköpfe sickern - die dann im Namen der Freiheit lernen, das zu wollen, was sie zu wollen gelernt haben.
Damit eine wirkliche Wahlfreiheit möglich ist, ist also nicht nur ein gewisser Vorbehalt gegenüber dem eigenen Wollen zu empfehlen, sondern auch die impliziten, unsichtbaren Regeln zu explizieren, sie sichtbar zu machen – und es dann der Einzelnen zu überlassen, ob sie sich diesen Regeln und Normvorstellungen unterwerfen will oder nicht.
Wenn sie sich aus freiem Willen zu einer effizienten Verbrennungsmaschine optimieren will, wie dies in Bodybuilding-, Fitness- und Militär-Kreisen ja eine äußerst attraktive Vorstellung ist, soll sie dies werden. Warum nicht?! Ruhm, Geld, Anerkennung und Glück warten ganz real auf die perfekte Maschine.
Die Entwicklung zu einem reifen Menschen, der eigenständig denkt und fühlt und sich sein subjektives Erleben allenfalls durch Daten ergänzen, aber sich niemals diesen unterwerfen lässt, ist ein gewagter Tanz auf einem dünnen Seil. Die Schulung und Bildung der eigen Wahrnehmungskraft, ja, sogar die old-school Kantsche Gewissensprüfung vor dem Zu-Bett-gehen (in heutigen Begriffen: Meditation), ist sicher herausfordernder als der Blick auf die App, die versichert, dass man alles gut gemacht hat und mit einem kleinen Dopamin-high fürs artig-sein belohnt. Aber wie viel von dem ‚man‘, die alles gut gemacht hat, war frau dann noch sie selbst? Wer bekommt das Lob? Der Mensch oder die Maschine?
Die Durchtechnologisierung und Vermessung der Welt ermöglicht es dem Individuum seine Freiheit – aber nicht seine individuelle Verantwortung – auf das Zählen zu übertragen. Statt die eigenen Sinne und Urteilskraft zu schulen, kann er im Zählen, Messen und Wiegen, dem ewig, reinen Reich der platonischen Mathematik, Halt finden. Die kcal-App als Wegweiser in den Himmel. Die Engel sind deshalb keine Menschen, weil sie keine Individuen sind. Alle sind gleich perfekt. Harmonische, reibungslos schwerelose ent-materialisierte (Maschinen-)Wesen. Lächelnd-liebliche Himmelsmaschinen, mit dem Flügelschrittzähler am Heiligenschein kleben.
Wer hingegen ins Reich der Materie eintritt, bekommt eine individuelle Form verliehen. Der Erdboden ist nicht ganz so sauber und keimfrei reingeputzt, sondern vor allem: vielfältig. Hier ist sie dem Chaos, dem Zyklus von Werden und Vergehen, den Wettertänzen unterworfen. Will sie mit ihnen ein Tänzchen wagen? Fliegt es sich nicht leichter ohne Flügelbeschwerer?
Wer glücklich werden will, fühlt sich vielleicht im himmlischen Reich göttlicher Ordnungen wohler.
Wer sie selbst werden möchte, wird zwischen Chaos und Kosmos tanzen – und laut lachen:
die Kalorienlehre – es war ein Fehler, ein Irrtum der Geschichte!